Meer Europa

Schlagwort Archiv: Brücke

Tag 314 (13.07.2019) / Norwegen: Kobbelv -> Saltstraumen

Strecke: 107 km  (09:45- 20:00 Uhr)

Ja, genau. Man sieht nichts.

Schwarzes Ungeheuer

Meine GoPro nahm nur Schatten von mir auf und ich vermute, dass die Autofahrer, die mich überholten, auch nicht viel mehr von mir sahen, trotz angeschalteter Fahrradfunsel. Uffff. Jedesmal hatte ich ein wenig Schiss, mich in dieses Abenteuer zu werfen. Und es waren derer viele an diesem Tag.

Norwegen. Land der tausend dunklen Tunnel, der zehntausend Brücken und der hunderttausend rollenden Wohnungen. Die “Weiße Pest” nannten sie heimische LKW-Fahrer, die ihnen das zügige Arbeiten auf der Straße verunmöglichte. Durch rentnerisches Trödeln, Naturgaffen, Kolonnen-Verhalten.

Auch mir machten die oft schleichenden und manchmal doch rasenden Wohnmobile zu schaffen. Viel zu oft – vor allem in den Tunneln – fuhren sie auf Handbreite an mir vorbei. Offensichtlich konnten die Chauffeure die Ausmaße ihres Riesenbesitzes nicht richtig einschätzen. Sie fuhren ihre motorisierten Haus-Monster ja auch nur einmal im Jahr übers Land.

Irgendwann war es mir genug und ich bog von der Europastraße 6 ab. Mit ihr wäre ich zwar schnell Richtung Süden gekommen. Aber auf ihr brummte eindeutig zu viel Verkehr. Ich machte, dass ich wegkam vom norwegischen Autoput und bog nach Westen ab, direkt an die Küste. Ab jetzt war die ehemalige Reichsstraße 17 mein Fahrrad-Reich.

Das Wetter wie es halt ist: nieslig. Kalt. Landschaft in tiefen Wolken. Nur als ich in mein Ziel – Saltstraumen – einfuhr, gab es einen kleinen Lichtblick. Ich sah: Die Küste war völlig anders als bisher.

Die Leichtigkeit des Steins

Als würde der wässrigbraune Boden in der bläulich gefärbten Luft schweben.

Steine als Schwebepartikel

Tag 312 (11.07.2019) / Norwegen: Gratangen -> Tysfjord

Strecke: 126 km  (09:30 – 21:45 Uhr)

Kurzer Aufwachblick aus dem Fenster: Der Fjord war noch da.

Schönes Aufwachen

Nach dem Frühstück ging ich zur Küche. Ich wollte mich vom Koch verabschieden, mit dem ich mich gestern bis spät in die Nacht verquasselt hatte, und mich für seine Gastfreundschaft bedanken. Er kam mir zuvor, drückte mir lange die Hand und sagte, ich hätte ihm gestern viel positive Energie gegeben. Es sei an ihm zu danken.

Ich war perplex und fuhr demütig in den neuen Tag hinein.

Er begann mit Zauberbildern.

Verweile!

Ich jagte die noch fast autofreie Straße runter zum Fjord.

Zieh weiter!

Querte danach Täler, Brücken …

Hüpf rüber!

… übte den Vogelblick,

Bleib doch!

… erreichte gegen Mittag die (unansehnliche) Stadt Narvik. Orientierte mich.

Stärkte mich mit einem Beef-Wrap und einem kühlen Blonden.

Und hoppte bald per Brückenhub auf die nächste Halb-Insel.

Auch hier zeigte mir die Vogelperspektive, welch irrsinnig schöne, zerklüftete Welten die Eiszeitgletscher auf ihrem Rückzug nach Norden hinterlassen hatten. Wahre Erdkünstler.

Wie oft hab' ich schon 'Traumland' geschrieben?

Plötzlich tauchten am Wegrand drei junge Wanderinnen auf.

Darauf muss man erstmal kommen

Ich hatte auf meiner Skandinavien-Umrundung schon ziemlich viel gesehen:

  • Einen Italiener mit roten Rastalocken, der mit dem Rennrad von Rom ans Nordkapp unterwegs war. (Er behauptete, jeden Tag 200 Kilometer zu fahren. Er hatte fast kein Gepäck dabei und schlief meist im Wald. Mir war rätselhaft, von was er sich ernährte, woher er das Trinkwasser besorgte.)
  • Ein Paar, das auf Tretrollern über die Straßen huschte, das schwere Gepäck auf den Rücken geschnallt.
  • Eine Ehepaar, das mit überdachten Fahrrad-Anhängern ihre beiden laut jammernden Bälge durch die Landschaft nach Norden zog.

Aber drei junge Frauen mit Lastenhund?

Wir grüßten uns fröhlich. Hallo, woher kommst Du, wohin geht Ihr? Der aufrichtig freundliche und froh stimmende Wanderer-Small Talk. Und tschüss. Ich wünsch Dir viel Glück. Passt auf Euch auf.

Ich musste wenig später Berge überwinden, um an mein Ziel zu kommen.

Ist das norwegisches Biedermeier?

Kurz vor 9 erreichte ich schließlich den Fährhafen Skarberget. Dort endete die Hauptstraße (E6) Richtung Süden. Autos mussten über das Meer geschafft werden (so spät waren nur noch wenige unterwegs). Fußgänger und Fahrradfahrer (ich war der einzige) durften umsonst die halbstündige Überfahrt genießen.

Am Horizont glitzerte, wie eine mattkühl angestrahlte Wand, die Traumlandschaft der Lofoten. Auf dieser Reise würde ich sie nicht näher sehen.

Kurz vor 22 Uhr kam ich an dem mittags bereits vorgebuchten Hotel an. Das Restaurant war schon lange geschlossen, die Bar aber noch offen.

Tag 310 (09.07.2019) / Norwegen: Tromsø -> Finnsnes

Strecke: 100 km  (09:15 – 20:00 Uhr)

Straßen enden am Meer. Banal. Ohne Brücken und

Fähren kommt man aber auch als Fahrradfahrer nicht voran. Mir war nicht bewusst gewesen, dass Norwegen ein Inselreich ist.

Eine Küstenstraße, die von Nord nach Süd führt, existierte praktisch nicht. Ständig hoppt man von einem Eiland zum nächsten und wieder aufs Festland zurück.

Am Ende wusste ich überhaupt nicht mehr, wo genau ich mich gerade befand. Grundrichtung jedenfalls “southbound”!

Und im Norden gab jetzt der Sommer sein Gastspiel. Zweiter strahlender Sonnentage in Folge!

Weiß ist doch eine Farbe

Um jede Ecke das norwegische Foto-Grundmotiv: rote Fischerhütte vor blauem Meer.

Sogar kleine Sandstrände. Sie malten mit Hilfe der (schwachen) Sonne das Motiv karibisch aus.

Beruhigend

Nur selten verliefen die Straßen gerade, ebenerdig. Meist war es ein wüstes Gekurve, samt Auf- und Abgestrampel.

I like it

Die Berge im Hintergrund lassen es ahnen.

Die Dörfer, die ich auf Fjordhöhe passierte: natürlich Fischerdörfer. Es schien, als habe jedes Haus seinen eigenen kleinen Hafen.

Zugleich Straßen- und Meerdorf

Gegen 15 Uhr legte ich zur zweitgrößten Insel Norwegens ab – Senja.

Wer bringt hier eigentlich den Rum vorbei?

Sie hat wohl die schönsten und coolsten Sandstrände der Gegend. Davon sah ich aber wenig. Sie befanden sich auf der Westseite, am offenen Meer. Ich aber fuhr die Ostseite ab. Diese war schön, aber nicht aufregend. Ich hatte gut zu arbeiten, um die Tagesstrecke zu packen.

Ziemlich genau um 20 Uhr erreichte ich wieder (diesmal über eine Brücke) bei Finnsnes das Festland. Ich hatte einige Stunden zuvor über ein Buchungsportal ein Hotelzimmer reserviert. Wie so häufig ein Gasthaus ohne Rezeption, ohne Personal. Über einen Code, der einem per sms zugeschickt wird, bekommt man Zugang.

Ein Sesam-Öffne-Dich-Code schließt dir auch deine Zimmertür auf. Du bist für Dich – aber will ich das?

Tag 294 (23.06.2019) / Finnland: Vaasa -> Kokkola

Strecke: 136 km (09:45 – 20:00 Uhr)

Okay. Ich hatte mittags geschlafen (3 Stunden) und spät nachts auch (6 – 7 Stunden). Ich fühlte mich nach der (vor)letzten durchzechten und durchradelten Nacht wieder einigermaßen fit. Die Sinusitits (ging einfach nicht weg!) störte, aber behinderte mich nicht mehr. Ich fuhr drauf los. Ich wollte endlich in den Norden. Am besten sofort an den Polarkreis. Aber da lagen nach einige Hundert Kilometer vor mir.

Nur: “gemach” ging heute überhaupt nicht.

Ich kam schnell ins Schwitzen. Keine Anstiege, nichts, und doch: Ich verbrauchte T-Shirt nach T-Shirt. Allesamt klatschnass. Und erst die Funktionsjacken. Konnten gar nicht so viel Wasser aufnehmen und wieder nach außen transportieren.

Es wehte (trotz Sonnenschein) eine kalter, unangenehmer Frontal-Wind.

Gegen 2 Uhr machte ich an der aufgewühlten Ostsee Rast. Breitete meine Klamotten auf dem Rasen eines Picknickplatzes aus. Wind & Sonne sind die besten Trockner.

Ich - Fahrendes (Einmann)Volk

Schon seit Tagen gab es unterwegs praktisch nichts zu kaufen. Mittsommer-Feiertage. Natürlich hatten auch die Alko-Läden (staatliches Monopol!) zu. Ich hatte es nicht rechtzeitig bemerkt und war in die finnische Alkohol-Falle getappt. In einem Supermarkt (bei einer Tanke) hatte ich mir schließlich eine Flasche spanischen Rotwein besorgt. Alkoholreduziert. Statt 11 Prozent nur mal 5,5 Prozent. Richtigen Wein dürfen die Tanken nicht verkaufen (staatliches Monopol – siehe oben).

Ich tat so, als schmeckte er mir.

Ich - sesshaftes (Einmann)Volk

In Wahrheit süffelte ich maximal einen leicht alkoholischen Traubensaft. Aus Deutschland hatte ich mir extra ein spezielles Wein-Plastikglas mitgebracht (unkaputtbar) und auf dieser Tour schon vielfach ausprobiert. Es taugte! Fast kein Unterschied zu Glas. Nur diesmal machte es den (alkoholreduzierten) “Sangre de Toro” auch nicht lebendiger.

Tischlein deck dich!

Mein Mittagessen bestand aus 1 Glas Rotwein, 1 Banane, 1 Pflaume.

Irgendwann durch Jakobstad geradelt. Beeindruckender Wasserturm (war das einer?).

Druckaufbau

Und dann wieder ein Lupinen-Radweg. Rad Rad Rad nach Norden.

Riechende Farben

Die Ostsee gewährte mittlerweile großzügig Einblicke.

Wie tief reicht dieses Blau?

Auf den letzten zwei drei Stunden hüpfte ich (mit Hilfe von Brücken) von Schäre zu Schäre und landete schließlich im vollkommen feiertagstoten Kokkola. Erneut kein Restaurant, keine Bar offen. Nur zwei drei Kebab-Pizza-Service-Läden. In einem versorgte ich mich mit einer Margherita zum Mitnehmen und entsorgte das wertvolle Lebensmittel gleich danach in einem städtischen Mülleimer – wegen Ungenießbarkeit.

Tag 292 (21.06.2019) / Finnland: Pori -> Pjelax

Strecke: 153 km (09:00 – 01:15 Uhr)

Jede Etappe hat ihren “Drama-Tag”. Dieses Mal kam er ziemlich früh. Es war Mittsommer, die Finnen feierten im ganzen Land die Sonnenwende und machten einfach alles zu: Geschäfte, Restaurants und Hotels. Auf meinem Internet-Portal, auf dem ich täglich meine Unterkunft buchte, wurde mir im Umkreis von über 200 Kilometern kein einziges freies Bett angezeigt. Ganz ernst nahm ich das nicht, dachte, irgendetwas würde sich unterwegs schon finden.

Gut gelaunt steuerte ich zunächst den Strand von Yyteri an, mit einer – für die Ostsee – überaus beeindruckenden Dünenkulisse.

Es war aber kaum etwas los. Schon gar keine Sonnenwendfeier. Dafür kam ein strammer Herr mit stolzem Bauch auf mich zu und redete wild gestikulierend und ohne Unterlass auf mich ein. Ihn störte auch nicht, dass ich signalisierte, kein Wort zu verstehen. Er forderte mich mit Hände, Gesten und verständlichen Worten auf, ihn zu fotografieren und erzählte mir eine finnische Geschichte, von der ich nie erfahren werde, ob sie interessant war. Irgendwann wurde es mir zu viel und ich verabschiedete mich freundlich. Und hörte beim Weggehen wie er seine Erzählung immer weiter ausspann.

Es blies ein kalter Wind.

Kann Gras Gänsehaut haben?

Trotz Dauersonnenenschein war es eher kalt und sehr diesig. Der lang gezogene Strand ziemlich leer.

Sogar der Sand fröstelte

Auch in den Dünen hielt sich kaum jemand auf.

Sand in the wind

Ich sattelte mein Fahrrad, fuhr – jetzt schon Mittag – weiter Richtung Norden.

Dynamo

Die Straße brückte sich zu Inseln, die der Küste vorgelagert waren. Manchmal wirkte die Ostsee wie eine Gruppe miteinander verbundener Teiche.

Meiner Mutter hätt's gefallen

Ich hatte schon fast 100 Kilometer in der Beinen (es war später Nachmittag) und immer noch nirgends eine offene Unterkunft entdeckt.

Unterwegs: ein alter hölzerner Glockenturm …

Wärmende Farbe

… mit einer beindruckenden Almosenfigur neben der Tür. Sie zeigte mir den Weg zum Heimatmuseum von Siippy.

Mit Fischerhütte, Bauernhof, Windmühle …

Signalisiert sofort: Vergangenheit

und alter Gaststätte, die (natürlich) zu hatte.

Am kleinen (fast schon mondänen) Dorfhafen traf ich ein frustriertes junges finnisches Paar, das hierher geradelt war, weil es glaubte, dass es an diesem Ort eine große Sonnenwend-Party geben sollte. Jetzt war es ziemlich enttäuscht.

Die beiden suchten auf dem Handy nach Informationen, fanden aber keine Erklärung. Sie hatten aber immerhin Proviant, Schlafsack und Isomatte dabei und brauchten sich um eine Unterkunft (die es nicht gab), keine Sorgen zu machen.

Entlang der Küste in jeder noch so kleinen Bucht ein schönes Ferienhaus mit akkurat gepflegtem finnischen Rasen und Holzstühlen am Ufer, auf denen es sich bald die Hobbyangler bequem machen würden (die finnische Sommer-Ferien-Saison beginnt.

Ich hatte beschlossen, das Städtchen Kristinestad anzusteuern, in der Hoffnung, dort – nach gut 135 Kilometern Strampeln – eine Bleibe zu finden. Immerhin fand ich unterwegs eine offene Tankstelle, in der ich mich mit Wasser und etwas Essbarem eindecken konnte. Ein Herr (Rentner?) mit Cowboy-Hut und Cowboystiefeln näherte sich mir interessiert. Er sprach recht gut Deutsch und erklärte mir, dass er lange in Australien gelebt und beruflich die ganze Welt bereist habe. Zeitweise auch in Deutschland gearbeitet habe. Ich fragte ihn ein wenig aus über die Sommersonnenwende und er erzählte mir, dass er am Morgen in Siippy gewesen sei und dort ein “riesiger” Event stattgefunden habe. Mit Feuer, Tanz, traditionellen Liedern. Sogar eine Gruppe Asylsuchender sei von den Organisatoren eingeladen worden. Ich mussten an das frustrierte Pärchen denken, dass sich also ganz offensichtlich in der Tageszeit getäuscht hatte.

Die letzten 10 Kilometer nach Kristinestad taten mir weh. Es war hügelig, ich war müde und als ich über eine langgezogene Brücke in das Städtchen einfuhr, war es bereits 9 Uhr abends. 3 Hotels gab es in der schönen Altstadt. Alle 3 hatten Schilder an den Toren: Rund um Mittsommer geschlossen. Ich klapperte mit Hilfe meines Handy-Navis Restaurants ab – ich hatte Hunger und Durst – alle geschlossen. Die Straßen wie leergefegt.

Der finnische Sommergott hatte aber Erbarmen mit mir und führte mich zu einem Pub, das tatsächlich auf hatte und aus dem laute Musik dröhnte.

Ich ließ mich in einen Sessel fallen und überlegte, was zu tun. Hier die Nacht verbringen (das Türschild zeigte immerhin an, dass bis 4 Uhr morgens offen sein würde) und dann am Morgen an irgendeinem Strand schlafen?

Ich saß kaum richtig, schon gesellte sich ein sympathischer Koloss zu mir. Er kippte seine zahlreichen Biere schneller als ich eines schlucken konnte, erkannte sofort, dass ich ein Deutscher war und wollte in meiner Sprache mit mir reden. Er hatte viele Jahre auf der Kölner Messe gearbeitet, war jetzt pensioniert und vermisste ganz offensichtlich seine zweite Heimat. Immer wieder suchte er nach (deutschen) Worten, wurde mit jedem weiteren Bier sentimentaler, öffnete mir sein Herz. Er erklärte mir Finnland, das eingeklemmt zwischen Schweden (“arrogant”) und Russen (“grobschlächtig”) seinen unabhängigen Weg suche.

Geschichtenerzähler

Er hatte Tränen in den Augen und irgendwann bemerkte ich, dass sie sich zu einem Rinnsal verdichteten, das stetig in sein Bier tropfte und es versalzte. Dann stand er urplötzlich auf (beeindruckende Größe!) umarmte mich warmherzig und machte sich auf den Weg nach Hause.

Kaum war der Platz neben mir leer, war er schon wieder besetzt. Eine ebenfalls beeindruckende Gestalt in Jägerklamotten hatte sich zu mir gesellt.

(Sollte mich irgendein göttliches Wesen ein zweites Mal in dieses Leben lassen, so sollte es mir dann unbedingt die Gabe verleihen, mir Namen merken zu können. In diesem ersten Leben gelingt es mir einfach nicht.)

Auch er sprach einige Brocken Deutsch. Er hatte vor vielen Jahren in Travemünde gearbeitet. Jetzt war er in Rente, war seit 5 Jahren clean – hatte früher “einfach zu viel getrunken”. Schluss damit.

Auch ein Geschichtenerzähler

Und er war gerührt, wieder mit jemandem Deutsch sprechen zu können. Er fragte mich aus, gab mir Tipps für die Weiterfahrt und stand gegen 23 Uhr auf. Er war melancholisch, umarmte mich und verabschiedete sich in die (taghelle) Nacht.

Die Stimmung in der Kneipe mittlerweile aufgeheizt. Eine Dorfband befeuerte das Publikum, von dem die eine Hälfte schon im Vollrausch war.

Die andere würde sicher bald folgen.

Der bullige Thekenwirt packte im Minutentakt gehunfähige Gefährten am Kragen und beförderte sie auf die Straße.

Auch das über ihrem (letzten) Bier eingeschlafene Mädchen musste den Pub verlassen.

Macht keine Geschichten mehr

Ich ging ebenfalls. Draußen zeigte eine Uhr an, dass gleich ein neuer Tag beginnen würde. Die Sonne war gerade untergegangen. Die Dämmerung hatte eingesetzt.

Tag/Nachtverschmelzung

Eine Dämmerung, die aber in keine Nacht leitete, die nur zwei helle Tage miteinander verband. Ich beschloss, noch eine Weilte weiter zu radeln. Aber das ist ja schon die Geschichte vom nächsten Tag.

Tag 291 (20.06.2019) / Finnland: Uusikaupunki -> Pori

Strecke: 86 km (09:00 – 16:15 Uhr)

 

Mit großer Vorfreude radelte ich zunächst nach Pyhäranta. Laut Reiseführer sollte sich dort eine uralte hölzerne Opferkirche befinden – mit sensationeller Innenbemalung. Ich fand das Kleinod nicht, nur einen Steinkoloss, düster über der Ostsee thronend.

Machtdemonstration

Die Innenausstattung protestantisch nüchtern.

Akkurat

Ich zweifelte an mir, bis ich merkte, dass ich den Namen falsch gelesen hatte. Die Opferkirche befand sich in Pyhämaa. Etwa 20 Kilometer entfernt von hier. Wieder einmal hatten mich diese (ähnlich klingenden) finnischen Namen ausgetrickst.

Ich strampelte weiter der Ostseeküste entlang, bekam das Meer aber nur sehr selten zu sehen. Meist blockte Wald die freie Sicht. Ich fuhr ein zwei Stichstraßen zum Wasser. Finnische Idylle pur. In jedem Winkel eine Holzhütte.

Geheimzugang

Vor jeder Hütte ein Anlegesteg für kleine Boote.

Aufgeräumt

Mittlerweile war das Gelände flach – mit nur kleinen Wellen. Ich kam zügig voran. Oft begleitet von herrlich blühenden Wegrändern, meist Lupinen, die Birken- und Nadelwälder einsäumten.

Aufgeblüht
Aufgeblüht 2

Schließlich einen längeren Spaziergang in Rauma gemacht. Ein UNESCO- Weltkulturerbe-Städtchen.

Mit einem bestens erhaltenen Stadtkern aus Holz.

Aufrecht

Schön und überraschend schön leer.

Am Nachmittag dann noch kurz in Schwierigkeiten gekommen. Die Pisten durch den Wald waren extrem grobschotterig. Ich fuhr fast wie auf Treibsand, sank ein. Musste heftig in die Pedale.

Abgebremst

Querte eine Hängebrücke.

Help me make it through

Und landete bald wieder auf geteerter Landstraße, die durch typische, friedlich schlummernde finnische Dörfer führte.

Dorf ohne Mensch

Pori, eine Industriestadt mit 80.000 Menschen, in der ich am Abend Unterkunft fand, verströmte Beton-Charme. Zum ersten Mal sah ich in dem wohlhabenden skandinavischen Land offene Armut und Gruppen von ziemlich abgerissen gekleideten Menschen.

Tag 271 (22.9.2018)/ Niederlande: Groningen -> Leer (D)

Strecke: 74 km (11:15 – 15:45 Uhr)

Gemütliches Flachradeln Richtung deutscher Grenze.

Windgeschützt

En miniature rauschte an mir noch einmal das typisch Niederländische vorbei: Grachten, gut ausgebaute Fahrradwege, Familienhäuser im Backstein-Lego-Stil, freundlich “Moin” rufende Menschen und Angler an den vielen Kanälen. Manche mussten noch nicht mal ihr Grundstück verlassen, um einen frischen Morgenfisch zu fangen.

Skulpturenpark
Auch eine Skulptur?

Recht schnell kam ich zur Grenze: ein Kanälchen. Hüben: NL Drüben: D
Wie schön, dass es in Europa immer noch möglich ist, Grenzen ohne Kontrollen zu passieren. Vielleicht siegt ja doch noch die Vernunft.

Grenzgang

An der kleinen Brücke war eine Gedenktafel angebracht. Ich lernte, dass ab 1933 niederländische Kommunisten deutschen Juden, Gewerkschaftlern, Kommunisten und Sozialdemokraten hier zur Flucht aus Hitlerdeutschland verhalfen. Durch den Grenzkanal.

Rote Hilfe

Bald das friesische Städtchen Leer erreicht. Hübsch.

Unterkunft: Hotel Ostfriesenhof. (75 Euro mit Frühstück.) Fahrrad außen angekettet.

Tag 125 (15.04.2016) / Italien: Campomarino -> Lido di Policoro

Strecke: 169 km (09:30 – 21:45)

Horror-Tag. Dabei fing er so schön an.
Ich fuhr gemütlich die salentische Küste entlang. Die nicht aufregend war, aber immer wieder nette Ausblicke bot.
Zum ersten Mal über einer längere Strecke Dünen in Italien gesehen.

Grünbucklige Sanddünen

Irgendwo ein Rock-Liebhaber-Strand-Café (das noch nicht aufhatte).

Who is the best?

Nach etwas mehr als zwei Stunden Tarent erreicht. Eine Stadt mit großem Hafen …

Gestutzte Promenadenbäume

… mit noch größerem geschichtlichen Hintergrund,

mit einer einladenden Neustadt …

Wer liebt wen?

… und einer absolut kaputten Altstadt (Insel), die über eine Brücke zu erreichen war.

Flickerei

Hier lebt das ärmste Italien. (Laut Reiseführer ist das historische Zentrum weitgehend entvölkert.)
Aber Armut ist wie immer auch pittoresk.

Er nimmt's gelassen

Ich schlenderte ein wenig (Fahrrad schiebend) durch die schmutzigen Altstadtgassen. Und fluchte, dass meine gute Kamera schon am ersten Tag kaputtgegangen war. Es gab kaum einen besseren Ort für optische Sozialstudien.

An der Uferpromenade die Anlegestelle für Muschelfischer. Die frische Ware wurde gleich verarbeitet.
Nur junge, fixe, flotte Halbstarke im Einsatz.

No bad guys!
Good guys! Mit Fußballerfrisuren

Einer bot mir eine frisch ausgelöste Miesmuschel an.

Fingerfertig

Ich schluckte sie roh und frisch und war überrascht über den guten Geschmack.
(Warum müssen es sonst immer Austern sein?)

Trug er eine Seeigelfrisur?

Ich staunte auf meiner Reise schon eine ganze Weile, wie viele begabte, gut aussehende, intelligente und sehr tatendurstige junge Männer den Service in Italien schmissen. In Restaurants und Hotels. In den Häfen und Fischereibuden.
Alles sehr ehrenwert. Aber gering verdienend. Ohne Chance auf sozialen Aufstieg. Wer konnte ihn – wenn überhaupt – bieten? Mafia? Kartelle?

Keine einzige Frau am Muschel-Fließband

Hinter Tarent ging es fröhlich weiter.
Ich fuhr die SS106, die vierspurig die Küste begleitete, aber auch einen breiten abgetrennten Servicestreifen hatte, den ich sehr entspannt fahren konnte.

Freie Fahrt für freie Radbürger

Ich kam schnell voran, fraß Kilometer nach Kilometer, und vergaß auch nicht den berühmten Hera-Tempel am Straßenrand. Ein Denkmal für die Zeuss-Schwester.

Säulenreihen

Angeblich befand sich hier auch die Schule des (von allen Matheverweigerern verhassten) Pythagoras.

Dorisch?

Kurz hinter der griechischen Antike fingen aber meine Probleme an.
Mein Navi zeigte mir noch knapp 25-30 Kilometer bis zu meinem Ziel (Policoro) an.
Doch die Seitenstraße der SS106, die ich bisher befuhr, löste sich plötzlich in Luft auf.
Und die SS106 wurde einfach zur Autobahn erklärt. Große Schilder verboten ausdrücklich sie mit dem Fahrrad zu befahren.

Ich wusste nicht, was tun.
Also beschloss ich einen Umweg zu machen, rein ins Landesinnere. Das Problem war, dass alle paar Kilometer ein Bächlein Richtung Adria floss, es aber (außer der Autobahn) keine Brücken über sie gab. Nur weit im Hinterland, am Bergrand.

Also suchte ich eine Kreuzungsmöglichkeit für das erste Bächlein weit im Landesinnern.
Nur: Ich hatte nicht bedacht, dass es von nun an bergauf ging! Über 30 Kilometer fuhr ich rauf und runter. Durch eine – ohne Zweifel – schöne Hügellandschaft (die zur Berglandschaft wurde).

Hier hätte ich stoppen sollen

Ich mühte mich, trat in die Pedale, hechelte. Ich hatte schon weit über hundertzwanzig Kilometer hinter mir.

Keine Ahnung, wie ich hier hochkam

Aber ich entkam der Nacht nicht. Es war tief dunkel, als ich wieder zurück war an der SS106. Nur ein paar Kilometerchen weiter, wo ich vor Stunden den Umweg angetreten war.
Autobahn! Groß das Schild. Kein Fahrrad!

Also wie weiter?
Es gab hier nichts, keine Pension, kein Hotel. Mir fehlten nur 10 Kilometer Luftlinie (über zwei Flüsschen hinweg) bis in ein touristisches Zentrum am Meer.

Also fuhr ich nachts Autobahn (und es gab noch nicht einmal einen Standstreifen).
Ich wurde halb wahnsinnig. Ich hatte Angst. Autos, die hupend an mir vorbeirauschten.
Halbe Stunde – und ich hatte die Strecke geschafft.
Runter von der Autobahn und über finstere Landstraßen nach Lido di Policoro. In ein Hotel, das ich eine Stunde vorher über booking.com gebucht hatte.
Noch nie war mir so egal wie ich untergebracht war.
Aber ich wurde herzlich empfangen und sehr gut umsorgt.

Selten war ich so kurz davor gewesen zu verzweifeln.
Irgendein griechischer Gott (oder eine Göttin) hatte mich jedoch 169 Kilometer lang beschützt.
Danke.

Unterkunft in Policoro: “Hotel Heraclea”. Eigentlich eine unpersönliche Bettenburg. Ich war sehr spät gekommen (21:45 Uhr ). Empfangsduo tat alles, dass ich mich wohl fühlte. Es suchte Platz für mein Fahrrad. Es organisierte im Hotelrestaurant einen Tisch für mich (obwohl das eigentlich für Halbpension ausgelegt war und ich nichts dergleichen gebucht hatte). Mit  anderen Worten: Sehr sehr herzliche Servicekräfte. (50 Euro mit Frühstück.) 

Tag 124 (14.04.2016) / Italien: Marina di Leuca -> Campomarino

Strecke: 133 km. (09:30 – 20:00)

Morgenblick aus dem Fenster.

Upgrade-View

Das Hotel, obwohl riesig und auf Masse ausgelegt, machte Dank des sehr netten Empfangteams einen fast familiären Eindruck.

Etwas getrödelt. Spät aufgebrochen.

Unterwegs immer wieder Graffiti zu einer angeblichen “Öko-Mafia”.

Von Gegnern kopiert/gelernt

Offenbar haben ein paar Ökos verhindert, dass noch der letzte Zentimeter der Küste zugebaut wird.
Jetzt werden die Großgrundbesitzer subversiv und sprühen Graffiti!
Verkehrte Welt.

Kein Turmbau zu Babel

Keine aufregende Küste. Aber immer wieder schöne Ecken. Blühende Landschaften.

What a wonderful world

Manchmal Dünen; und ganz Verwegene wagten sich schon ins frühlingskalte Meer.

Horizont-Frau

Schöne Stellen – wie gesagt.

Hohlweg zum Meer

In der Ferne lag Gallipoli. Ursprünglich eine alte griechische Siedlung.

Insel-Städtchen

Über eine Brücke war die Altstadt (auf einer Insel!) zugänglich

Mehr als mittelprächtig

Wieder diese überbordenden Barockfassaden, die ich nicht verstehe. Warum ist dieser Jüngling gefesselt? Spiele? Folter? Göttliches Vergnügen? Wer erklärt mir das?

Männlich-weiblich?

Wunderschöne (sind Wunder immer schön?) Gassen …

Kurvig

… in denen wundersame Männer auf ihr Handy starrten.

Zu große Hände für das kleine Ding

Ich stellte mein Fahrrad ab …

Ich wollt', das wär meins

… und nahm meine mittägliche Stärkung ein.

Rothaut

Ein wenig betäubt fuhr ich weiter.
Die Landschaft uninteressant – mit Ausnahmen.

Wenn's nur überall so wär’

Einmal immerhin ein pittoreskes Hafenörtchen.

Kontrollblick

Typische tantrische Nachmittags-Stellung eines süditalienischen Rentners: völlig entspannt.

Was denkt er bloß?

Ich war es nicht mehr nach über 130 Kilometern.

Dank Smartphone fand ich dennoch eine passable Unterkunft. In Campomarino. Vor gut zwei Wochen war ich schon einmal in einem Ort gleichen Namens gewesen. Genauso tot.

Um etwas zu Essen zu bekommen, radelte ich nach dem Duschen noch einmal 3 Kilometer weiter landeinwärts in ein kleines Provinzstädtchen.
Ich wurde herzlich empfangen und reich versorgt!

Unterkunft in Campomarino: “Villa Bruno”. Sehr spät (19 Uhr) erst über Internet gebucht. Familie war völlig überrascht, als ich kam. Versuchte eilig, alles zu richten.  Herzlich. Aber Unterkunft eindeutig überteuert . (60 Euro ohne Frühstück.) Fahrrad in Hof abgestellt.

Tag 103 (10.11.2015) / Frankreich: Le Tréport -> Boulogne-sur-Mer

Strecke: 104 km (09:30 – 17:10)

Novembergrau setzte sich durch. Schon der Morgen zeigte die ganze Tagesrichtung an: keine Sonne, schwere Wolken, Null Sicht. Es kam mir zupass. Mein Tagesziel: weit kommen.

Treport=3 Häfen?

Le Tréport über die Brücke zum Nachbarort verlassen.
Im schmucken Badestädtchen Mers-les-Bains kurz Kaffee getrunken (Café allongé) und dann los.

Puppenstube

Nichts gesehen, nichts erlebt, selten angehalten. Nur einmal, um meine Mittagsstärkung einzunehmen (1 Glas Sauvignon).

Der Abend kam und war wie der Morgen: grau.

Normannischer Friedhof mit Kirche, Burg und Gräbern

Rechtzeitig Boulogne-sur-Mer erreicht. Wieder war ich überrascht wie schön (mittelalterlich) der Stadtkern (Festung) ist. Ein paar belebte Weinkneipen. Massenweise Briten unterwegs. Sie kommen in Scharen. Die Insel liegt ja auch in Spuckentfernung – und von Boulognes großem Hafen gehen Fähren ab.

Unterkunft in Boulogne: “Hotel Les Gens De Mer”. Zentrumsnah. Hotelblock. Etwas runtergekommen, aber sauber. Höflicher und flotter Empfang. (42,50 Euro ohne Frühstück.) Fahrrad in Kammer abgestellt.