Dazu 2 Fähren mit ca. 24 Kilometern. (10:15- 19:45 Uhr)
Nach dem gestrigen Tag, der mich fast völlig ausgelaugt hatte, ging ich es heute etwas gemütlicher an. Spät erst brach ich auf. Der Tag lud eh zum Bummeln ein. Die Sicht war grau, diesig. Es war kalt. Meine Unterkunft war eine Katzensprung vom Fährhafen in Nesna entfernt. Die Überfahrt nach Levang ging schnell. Der dortige Anlegestelle – wie so häufig – im Niemandsland. Ein Verladesteg. Eine Schlange von wartenden Autos und Caravans. Ein, zwei Häuser. Sonst nichts.
Frösteliger Empfang
Unterwegs: immer wieder ein paar Siedlungen an den Fjordufern. Ich weiß nicht, ob man bei der Ansammlung einiger Häuser von einem Dorf sprechen kann. Es gab keine Mitte, kein Marktplatz, keine Kirche mit Kirchplatz. Die Häuser standen eher neben einander. Anwohner waren so gut wie nie auf der Straße. Auf dem Wasser manchmal ein paar Fischer oder Angler. Aber ansonsten: Landschaft und Meer ohne Menschen.
Freundlicher Anblick
Die Küste: ein Gewirr aus Inselchen und Inseln.
Sanfte Stein-Inselchen
Über Land fahren hieß oft: über Brücken fahren. Manche waren spektakulär konstruiert. Eine – die Helgelandbrücke – führte scheinbar aufs Meer, nutzte eine Landzunge im seichten Ozean, um sanft auszulaufen.
Auf Grund gelaufen
Auf der zweiten Fähre sah ich zufällig einen Prospekt, der die Ferien-Unterkünfte der Gegend aufreihte. Ein Gästehaus in der Nähe der schönen Kirche in Vevelstad hatte noch ein Zimmer frei.
Ernst und heiter zugleich
Das Haus entpuppte sich als Wunderkiste. Liebevoll im alten Stil eingerichtet. Eine Herberge mit 5 Zimmern.
Gute Alte Zeiten - hier stimmt's mal
Die Wirtin kochte selbst – aber nur auf Vorbestellung. Da ich spontan geklingelt hatte, bekam ich nicht das Menü ab. Die Wirtin kramte aus dem Gefrierschrank dafür einen exzellenten Bacalao-Eintopf hervor, kochte ihn vorsichtig auf, würzte und schärfte ihn noch etwas.
Selten einen so schmackhaften (getrockneten und gesalzenen) Kabeljau gegessen. Mit Kartoffeln und Zwiebeln. Portugiesische Klippfischküche im hohen Norden.
Überhaupt die Wirtin: Sie schaute einen listig an, war schlagfertig, juxte viel und war stolz auf ihre Unterkunft. Erklärte gerne die vielen Details der sorgfältig ausgewählten Einrichtung. Fast alles Erinnerungsstücke. Aber nichts, rein gar nichts war muffig. Alles strahlte heiter. So wie die Wirtin. Es schmeichelte ihr, wenn man ihre Kochkünste lobte. Dann seufzte sie tief und zufrieden.
Im kleinen Speisesaal nur Deutsche: ein Männerpaar aus München und ein Blogger (hab vergessen woher), der neue Wanderwege suchte.
Wir zogen uns nach dem Essen gemeinsam ins “Entrée” genannte Herrenzimmer zurück. Berauschten uns an dem, was wir alles schon in Norwegen gesehen hatten.
Norwegian Rain. Ich “arbeitete” die angekündigten Regentage ab. Hielt stur an meinem Plan fest und steuerte das Nordkap an. Auch wenn das Rad unter der Belastung immer häufiger zickte (Gangschaltung und vorderes Radlager machen Probleme).
Steigt hier nie der Pegel?
Ich ahnte, was man fotografisch aus den Motiven hätte herausholen können – mit ein bisschen Sonnenstrahl-Unterstützung.
Bleibt das immer so ruhig?
So war alles grau-milchig. Und für mich – der ich zum ersten Mal das Nordmeer sah – dennoch faszinierend.
Keine Menschen vor den Häusern.
Wer kommt hier vorbei?
Unbesungen die Kirchen.
Rhythmische Architektur
Straßen, die sich wie Lindwürmer durch eine karg gewordene Landschaft schlängelten.
Rangeschmiegt
Mal flach, küstenbegleitend, mal bergig und herausfordernd.
Umkurvt
Mal durch lange eiskalte und dunkle Tunnel führend.
Durchschaut
Mehr als einmal fragte ich mich, wie Menschen sich absichtlich so in die Einsamkeit zurückziehen können. Vor traumhafter Kulisse ja – aber was, wenn die Tage nur dunkel sind? Was tut man dann hier?
Lass. Dich. Fallen.
Wenn nicht einmal mehr die Bergriesen zu bestaunen sind?
Erschöpft in Repvag angekommen. Ein kleines Fischernest, noch ca. 85 Kilometer vom Nordkapp entfernt. Ich hatte überhaupt kein Gefühl für die Uhrzeit. Mein Handy war – regenbedingt – ausgefallen, hatte sich (wohl wegen Kondenswasser) urplötzlich entladen. Eine Armbanduhr besaß ich nicht. Ich fragte am Dorfeingang eine Frau nach der Zeit. Die Frau entschuldigte sich auf russisch, dass sie keine Uhr dabei habe. Ich wusste nicht, war es schon Nacht? Ich hatte das Gefühl sehr lange für die Fahrt hierher gebraucht zu haben.
Immerhin gab es in Repvag ein Hotel (das ich gestern vorgebucht hatte), dessen Tür aber verschlossen war. Ein handgeschriebenes Plakat erklärte, dass Hotel und Restaurant wegen “low season” noch ZU sei. Nach langem Klopfen erschien eine junge Frau, schloss auf und bat mich rein. Ebenfalls eine Russin. Model-Figur, kluge Augen, strahlendes Lächeln, lautes herzliches Lachen. Erklärte, dass das Schild nichts bedeute, sie wollten im Moment nur keine unangemeldeten Gruppen von “Motorradfahrern” verköstigen. Nur Gäste, die angemeldet seien. Und ich hätte mich ja angemeldet.
Belagert
Es war erst 19 Uhr (ich war also schneller geradelt, als ich gedacht hatte). Die junge Russin erklärte mir in schnörkellosem Englisch, wo ich mein Zimmer finden würde, bot mir ein Abendessen an (im Teigmantel zubereiteter Dorsch) und fragte mich nach meinen Wünschen für das Frühstück aus.
Eine Stunde später war ich geduscht und gut gelaunt zurück im Restaurant. Auf einem kurzen Spaziergang durch das kleine Dorf (ca. 10 bis 15 Häuser) hatte ich ausschließlich Autos (Geländewagen) mit russischen oder ukrainischen Kennzeichen gesehen.
Ich war einziger Gast im Restaurant (in den Unterkünften hatte ich einen weiteren deutschen Radler kurz gesprochen, doch der tauchte hier nicht auf). Der Koch brutzelte fleißig an meinem vorbestellten Dorsch und ich hatte Zeit, mich mit der jungen Russin zu unterhalten.
Sie stammte aus Kaliningrad, studierte noch, war während der Ferienzeit hier in Repvag, um im Hotel und Restaurant ein wenig Geld zu verdienen.
Bereitwillig gab sie Auskunft, dass vor ca. 7 Jahren das Hotel von einem russischen Geschäftsmann gekauft worden war – und seither immer mehr Russen sich hier ansiedelten oder ihren Urlaub verbrachten. Vor allem um nach Königskrabben zu fischen – oder überhaupt, um zu fischen. Es gäbe mittlerweile sogar ein eigenes russisches Fischercamp hier. Sie selbst langweilte sich ein wenig in dieser menschenleeren Region und hatte Sehnsucht nach Kaliningrad, in dem es gerade sommerlich heiß sei – und nicht so nasskalt wie in Nordnorwegen.
Wohin der Blick?
Draußen blinzelte die Nacht-Sonne. Und beschien Klein-Russland in Norwegen.
Die Fischer nagelten ihre Jagd-Trophäen an die Außenwand.
Ist das skurril oder eine besondere Art von Humor?
Ich blieb lange im Restaurant als einziger (aber nicht stummer) Gast.
Mit großer Vorfreude radelte ich zunächst nach Pyhäranta. Laut Reiseführer sollte sich dort eine uralte hölzerne Opferkirche befinden – mit sensationeller Innenbemalung. Ich fand das Kleinod nicht, nur einen Steinkoloss, düster über der Ostsee thronend.
Machtdemonstration
Die Innenausstattung protestantisch nüchtern.
Akkurat
Ich zweifelte an mir, bis ich merkte, dass ich den Namen falsch gelesen hatte. Die Opferkirche befand sich in Pyhämaa. Etwa 20 Kilometer entfernt von hier. Wieder einmal hatten mich diese (ähnlich klingenden) finnischen Namen ausgetrickst.
Ich strampelte weiter der Ostseeküste entlang, bekam das Meer aber nur sehr selten zu sehen. Meist blockte Wald die freie Sicht. Ich fuhr ein zwei Stichstraßen zum Wasser. Finnische Idylle pur. In jedem Winkel eine Holzhütte.
Geheimzugang
Vor jeder Hütte ein Anlegesteg für kleine Boote.
Aufgeräumt
Mittlerweile war das Gelände flach – mit nur kleinen Wellen. Ich kam zügig voran. Oft begleitet von herrlich blühenden Wegrändern, meist Lupinen, die Birken- und Nadelwälder einsäumten.
Aufgeblüht
Aufgeblüht 2
Schließlich einen längeren Spaziergang in Rauma gemacht. Ein UNESCO- Weltkulturerbe-Städtchen.
Mit einem bestens erhaltenen Stadtkern aus Holz.
Aufrecht
Schön und überraschend schön leer.
Am Nachmittag dann noch kurz in Schwierigkeiten gekommen. Die Pisten durch den Wald waren extrem grobschotterig. Ich fuhr fast wie auf Treibsand, sank ein. Musste heftig in die Pedale.
Abgebremst
Querte eine Hängebrücke.
Help me make it through
Und landete bald wieder auf geteerter Landstraße, die durch typische, friedlich schlummernde finnische Dörfer führte.
Dorf ohne Mensch
Pori, eine Industriestadt mit 80.000 Menschen, in der ich am Abend Unterkunft fand, verströmte Beton-Charme. Zum ersten Mal sah ich in dem wohlhabenden skandinavischen Land offene Armut und Gruppen von ziemlich abgerissen gekleideten Menschen.
Früh losfahren ging nicht. Meine Wirtin war immer noch mit Vorkochen beschäftigt. Sie hatte mich gewarnt: Frühstück frühestens um 9 Uhr. Und dann tischte sie alles auf, was die Küche so gebunkert hatte: Biojoghurt, Biowurst, Früchte (wohl eingeflogen), frischaufgebackene Brötchen, selbstgemachte Marmelade, Filterkaffee, O-Saft und und und … Und ich aß nur den Joghurt samt aller Früchte und trank literweise Kaffee. Damned.
Ich hatte beschlossen, eine kurze Etappe zu fahren. Noch muss ich mich schonen, die Nebenhöhlen knirschen und knarzen gewaltig. Also nach 3 Stunden Strampeln Turku angeschaut und gebucht.
Hippe Cafés, schicke Restaurantboote, Jazz for free in einem beliebten Fischrestaurant an der Uferpromenade des Aurajoki. An manchen Stellen wirkte das Ostsee-Städtchen mit seiner Holzbautenarchitektur und mit seinen mit mediterranen Farben ausgepinselten Fassaden fast italienisch heiter.
Schnurstracks
Nur die Kirchenbauer setzten konsequent auf Nordisch-Klinker.
Selbst die Städte und Städtchen in Finnland sind grün – als könne sogar ein Stadt-Finne nicht auf ein bisschen Vor-der-Tür-Wildnis verzichten.
Drei Dinge habe ich heute über mein Gastland gelernt: 1) Beim Fahrradfahren kann ich träumen. Das Velo-Netz ist so irre gut, dass ich mich weder auf die Straße noch auf Autos konzentrieren muss. 2) Im Einwanderungsland Niederlande sehe ich jetzt schon 200 Kilometer lang nur Weiße: am Strand, in den Straßen, in den hochpreisigen Restaurants. Nicht mal als Servicekraft ein Gesicht, aus dem der Migrationshintergrund lächelt. Offenbar sind all die Indonesier, Surinamer, Türken und Curaçaoer in den großen Städten. 3) Es gibt Rückenwind. Zum ersten Mal auf meiner Europa-Tour.
Der Tag begann mit einem Besuch in einem Fahrradladen. Meine Schaltung zickte, ich wollte sie reparieren lassen. Ging aber nicht. Eine Gruppe deutscher Rentner bevölkerte den Shop und ließ sich ausführlich in Sachen E-Bike beraten.
Draußen lärmte der pittoreske Wochenmarkt, rund um die Kirche von Zoutelande.
Marktkirche
Sogar einen großer Stand mit Fahrradartikeln gab es.
Typischer als Holzpantoffeln
Das Wegenetz: großartig. So gut wie immer mit getrennten Rad-Spuren. Mit Autos kam man nur selten in Kontakt. Mit verbissenen und durchgeknallten Radlern ebenso wenig.
Radlerparadies
Ich hatte viel Zeit, abzutauchen … in die Farben … ins strahlende Meer … in mich.
Dreikäsehoch
Die Dörfer herausgeputzt. Adrett. Fast klinisch sauber. Überfüllt von deutschen Rentnern aus dem Rheinland. Ich hörte mehr rheinischen Dialekt als holländisch.
Drei Seelen hoch
Die Strände wild. Rauschhaft. Heute auch stürmisch.
Geerdet
Jugend immer dort in der Überzahl, wo es Sportmöglichkeiten gab.
Gelüftet
Gewässert
Ich durchfuhr das Holländiche Delta. Die großen Flüsse mündeten hier: Rhein, Maas und Schelde. Ich befuhr die größten Sturmflutwehre der Welt. Gigantische Bauwerke, die das Meer bändigen sollen.
Weltwunder
Ich durchradelte Industrielandschaften, die so proper waren, dass sie fast etwas Idyllisches vorspiegelten.
Geputzt
Gewächshäuser wuchsen aus der Erde (statt Gerste, Weizen und Mais). Wie riesige Kunst-Pavillons für eine Dauerausstellung “Virtuelle Landwirtschaft”. Arbeiter, Bauern sah ich nicht. Vielleicht braucht man sie hier auch nicht.
Künstlich, kunstfertig
Ein imposantes Land.
Sehr spät in Den Haag eingefahren. Es dunkelte bereits.
Unterkunft: Hotel Excelsior. Wie alle Hotels in der Hauptstadt extrem überteuert. Für mein kleines (schönes) Zimmer berappte ich 90 Euro (mit Frühstück). Fahrrad auf der Straße gelassen. “Kein Risiko” sagte der Portier.
Am Morgen noch kurz über den Markt in Cahul gegangen, um mich mit Wasser und Snacks für die Fahrt einzudecken. Hatte leider den Fotoapparat nicht dabei. Sehr belebter und schöner Markt. Wie überhaupt: Cahul hatte mich beeindruckt.
Die Fahrt dann sehr anstrengend. Es ging quer zu den Bergketten.
Einen Weinberg rauf.
Rebland
Den andern Hügel wieder runter.
Berg-Tal-Land
Extrem ermüdend. Die Straße schlecht. Aber auch heute kaum Autos unterwegs. Ich freute mich immer, wenn ein Dorf auftauchte.
Langgestrecktes Dorf
Es brachte ein wenig Abwechslung in die staubige, diesige eingegraute und noch gar nicht frühlingsbereite Landschaft.
Seestraßendorf - mit durch den Dunst verzerrten unwirklichen Farben
Urplötzlich wurde die Straße besser. Und es wurde flacher.
Einsatzfähig
Unterwegs immer wieder deutliche Zeichen von echter Volksfrömmigkeit. Zahlreiche gut gepflegte Kapellen.
Vergoldet und windschief
Oder Kirchen.
Versilbert und Macht demonstrierend
In einem Minimarkt kaufte ich mir mein Mittags-Bier. Im Nu hatte ich Gesellschaft. Ein Herr, der mich mit seinen Goldzähnen anlachte, ließ sich nicht lange bitten.
Unterhaltsam
Ich lud ihn zu einem Wodka samt Chisinau-Bier ein. Der Herr konnte zwei, drei Brocken Deutsch: “Auf Wiedersehen”, “Bier”, “Tschüss” und wiederholte seine Kenntnisse gerne.
Goldanlage
Ich befand mich im Herzen Gagausiens (gesprochen: Gaga-Usien). Die Region beansprucht ähnlich wie Transnistrien eine autonomes Gebiet zu sein. Noch (immerhin) kam es aber mit Moldawien nicht zu einem militärischen Konflikt.
Comrat, die Hauptstadt Gagausiens, herausgeputzt.
Goldversilbert
Goldig
Mit Erinnerung an den realen Sozialismus.
Überlebt
Und dem Klimbim, den eine autonome Region wohl haben muss: übermässiger Nationalstolz.
Brimbamborium, das ich nie verstehe
Eigenes Militär. Und Kram.
Schild-Autonomie
Die Menschen in den Straßen: friedlich, freundlich.
Unterkunft: Hotel Altin Palace. Zentrum. Völlig verwinkelter Bau. Mein Zimmer ohne Fenster. Eng. Empfang sprach nur russisch. Schwierige Verständigung. 30 Euro (ohne Frühstück).
Viel gab es heut nicht zu tun. Ich schaute auf meinem Frühmorgenspaziergang ein paar jungen Kraftprotzen zu, wie sie ins eiskalte Wasser stiegen, knöcheltief nur (Außentemperatur 8 Gad!), staunte, wie sie sich dann mit geweihtem Meerwasser besprengten und danach schwitzend mit allerlei Bleisäcken, Gewichten und akrobatischen Übungen ihre Muskeln trainierten. Offenbar bereiteten sie ihre Körper auf die nahe Touristensaison vor.
Anbeter
Ich bat einen, mir seine tätowierte Brust zu präsentieren. Für die Selfiegeneration kein Problem. Ist für sie wohl auch Weltkulturerbe.
Noch Platz frei
Ich lief einmal links um die Halbinsel rum und danach rechts rum.
Blaue Kurve
Ich war sehr wohlwollend gestimmt. Guckte und guckte.
Nach oben gebaut
Aber außerhalb der Saison machte das trotzdem keinen besonderen Eindruck. Keine der vielen Attraktion sperrte die Tür für mich auf. Nicht Kirche, nicht antiker Platz – nirgends eine offenes Tor und ein Kartenabreißer.
Echt antik
Abgerundet
Wunderte mich, was die vielen an Bäume gepinnte Zettel wohl für einen Hintergrund hatten. Totenklage? Ich hatte niemand zur Seite, der mir das hätte erklären können/wollen.
Verzettelt
Ask the cat? No answer! Lazy afternoon.
Versonnen
Ich fuhr für eine Weile mein Fahrrad aus, ohne alles Reisegepäck – und staunte, wie schnell ich (ohne Zusatzgewicht) voran kam. In Nullkommanix zum gegenüberliegenden “Sonnenstrand”. Bulgarische Partyzone schlechthin. Wenn sie denn mal begänne (Juni?).
Touristenfischer
Jetzt: Tote Hose wär noch untertrieben. Schmuddelig wirkten der leere Strand, schmuddelig die leeren Hotelarreale.
Traumstrand iss woanders
Als ich am frühen Abend nach Nessebar zurückkehrte: eine kleine Überraschung. Statt 2 bis 3 offene Lokale wie gestern, hatten plötzlich ein halbes Dutzend auf. Cafés stuhlten aus, Andenkenläden rollten ihre Tandstaffellagen nach draußen. Wer hatte das Zeichen gegeben, dass ab morgen die Saison beginnt?
Ich hatte einen klaren Auftrag. Eine Freundin aus Stuttgart hatte mich gebeten, wenn ich doch schon im Nordosten Griechenlands rumkurvte, in einem kleinen Dorf namens Agora vorbeizufahren und möglichst viele Fotos zu machen. Der Grund: Ihr (türkischer) Großvater stammte von dort und war 1920 nach Istanbul umgesiedelt. Sie wollte eine fotografische Erinnerung an den Herkunftsort ihres Opas. Bis 1922 war die Gegend osmanisch. Nach dem (türkisch-griechischen) Krieg wurde sie griechisch. Die Türken (500.000) von hier wurden größtenteils in die (heutige) Türkei umgesiedelt. Ca. 1,5 Million Griechen, die in damals dort in Kleinasien wohnten, wurden zurückgespiegelt und vor allem hierher (nach Ostmakedonien und Thrakien) umgepflanzt.
Ich verließ Drama Richtung Berge.
Die Landschaft schön, wellig, fruchtbar. Mit eingesprengten kleinen Dörfern.
Dorf mit 1 Straße
Früher war die Gegend bekannt für Tabakanbau. Was heute kultiviert wird? Ich konnte es nicht erkennen.
Frühlingsfarben
Langsam ging es hoch. Die Dörfer immer ruhiger. Nicht mal Hunde bellten.
Wohnzimmer draußen, nicht drinnen
Es fehlten noch ca. 5 Kilometer bis Agora. Keine Beschilderung. Viele Kreuzungen. Am Wegrand ein Hirte mit seiner Kuh-Herde und ein weißhaariger älterer Mann. Ich fragte auf Englisch, dann auf Deutsch … wo bitte geht’s lang?
Sonnig (Charakter und Tag)
Der Hirte verstand ein paar Brocken Deutsch. Fragte, was ich denn in Agora wolle? Ich erklärte … Eine türkischstämmige Freundin …. türkischer Opa … dort gewohnt … Die beiden verstanden nicht wirklich, nickten aber interessiert. Zeigten mir den Weg, der mir ziemlich nasse Füße bescherte.
Ich musste barfuß diese wadentiefe Furt mit meinem Lastesel durchqueren. Eiskalt.
Coldstream
Wenig später kurvte der weißhaarige Mann von vorhin mit seinem Auto an mir vorbei. Stoppte und bedeutete mir zu warten. Er stammte selbst aus Agora, konnte weder Deutsch noch Englisch. Aber per Handy hatte er um Hilfe für mich gerufen. Nach 5 Minuten kam schließlich ein weiteres Auto angezockelt. Ein munterer Rentner entstieg, ebenfalls aus Agora. Er sprach perfektes Deutsch.
Touristenhelfer
Ich erklärte wieder .. türkischstämmige Freundin … Opa aus Agora …. Der Herr verstand sofort. Fand es lustig, dass ein Deutscher nach türkischen Wurzeln in Griechenland… usw. … Er fragte, was ich denn über den türkischen Opa wisse. Ich nannte den Namen “Yasar Yasan”. Und ob ich wisse, wie das Dorf einst auf türkisch hieß? Ich sagte “Pazarlik”. Er war zufrieden. (Hatte ich den Test bestanden?) Er erklärte mir, dass es im Dorf keine “Erinnerung” mehr an die türkische Zeit gebe. Alle die hier wohnten, seien “Neulinge” von woanders her. Alle Türken von damals seien weg. Und mit ihnen eben die Namen, die Geschichten, die Erinnerung. Aber es gebe noch viele ehemals türkische Gebäude, die meisten allerdings verlassen und ziemlich heruntergekommen. “Agora”, sagte er, sei im Übrigen das griechische Wort für “Pazarlik” (Markt). Der Herr bedauerte schließlich, dass er selbst mir nicht helfen könne, da er einen wichtigen Termin in Drama habe. Aber mein Freund an seiner Seite würde er instruieren, mir alles zu zeigen, was es noch an “Türkischem” in Agora gebe. Sagte es, redete auf den Weißhaarigen ein und verschwand.
Der trottete dann mir seinem Kleinwagen vor mir her bis Agora.
Geschafft
Ein griechisches Winzdorf, mit einer überdimensionierten Kirche und einigen Kapellen.
Kirchenmacht
Und wie aus dem Nichts erschienen weitere Bewohner. Eine Nachbarin und ein Mechaniker, den mein weißhaariger Freund ebenfalls per Handy alarmiert hatte.
Nachbarschaftsrat
Der Mechaniker kam mit seinem Fahrrad den Berg hochgesprintet, hörte sich kurz meine Geschichte und mein Begehr an, sagte in akzentfreiem Deutsch, dass er leider nicht helfen könne, da er eine Terminarbeit habe, ich aber in besten Händen bei meinem Freund sei. Wir sollten doch später bei ihm auf einen Kaffee vorbei kommen. Und verschwand.
To make a long story short. Mein Freund telefonierte noch weitere Bewohner ab, bis ich schließlich in die Obhut eines Rentners weitergereicht wurde, der lange in Solingen in einer Autofabrik gearbeitet hatte und nun selbst in einem Haus wohnte, das vor über 100 Jahren Türken gehört hatte.
Er führte mich den Berg hoch in einen Ortsteil, der fast versteckt vom heutigen Hauptort lag …
Alter Dorfweg
Fortschreitender Verfall
… und zeigte mir das, was es an “Türkischem” noch zu sehen gab. Trümmer!
Fast verwunschen
Ausgedientes, Zugeklapptes.
Ausgerastetes, Zweckloses.
Es muss ein schönes osmanisches Dorf gewesen sein. Mit opulenten Herrenhäusern.
Mit herrlichen Aussichten, traumhaften Vorgärten.
Früher weideten hier Schafe
Mit kleinen Bauernhöfen.
Betonfrei
Mit pittoresken Dorfstraßen.
Genügend Platz
Mit fantastischer Natur.
Der hat Kriege erlebt
Ein ehemals glückliches (?) Dorf.
Eingebettet
Es lebte und atmete nicht mehr. Nur sehr vereinzelt hatten die Neubewohner die alten Anwesen übernommen. Einige wenige waren renoviert.
Mein Begleiter erklärte mir, dass sowieso nur noch alte Griechen hier wohnten. Alle jungen seine weg – fast alle in Deutschland – wo sie Alte ja früher auch gewesen seien.
Schlagartig wurde mir klar, dass ich es mit Vertriebenen zu tun hatte. Die Großelterngeneration hatte als griechische Minderheit im osmanischen Reich gewohnt, wurde vor 100 Jahren ins heutige Griechenland zwangsumgesiedelt, wurde nie heimisch in der neuen Heimat. Sie waren jetzt hier geschichtslos – so wie es dieser Ort war. Die nachfolgenden Generationen suchten ihr Glück dann (ab den 70er/80er Jahren) als Gastarbeiter in Deutschland.
Ich fragte meinen Begleiter, ob sie denn ab und zu in die Türkei führen auf der Suche nach ihren Wurzeln? Er sagte: “Manche”. Und er erzählte, dass jeden Sommer einige Türken nach Agora kämen, die die Häuser ihrer Groß- und Urgroßväter noch einmal sehen wollten. Wurzellose Vertriebene, denen man ihre Geschichte geklaut hatte, auf beiden Seiten.
Ich bedankte mich bei meinen Gastgebern. Verabschiedete mich – fast schon melancholisch.
Erst als ich schon weit aus dem Dorf war, fiel mir auf, dass ich in Agora nirgends Spuren eines muslimischen Friedhofs oder einer Moschee gesehen hatte.
Unterwegs – zurück zur Küste – weitere schöne (ehemals türkische) (jetzt) griechische Dörfer. Weingegend.
Schließlich Kavala erreicht.
Google-Blick
Die Altstadt mächtig auf einem Fels thronend.
Thron
Die Hafenstadt zeigte stolz, wie alt sie war.
Tropisch-römisch
Noch von Weitem war das historische Aquäduct zu erkennen.
Hinteransicht
Es fing an zu regnen. Kam die Sonne dennoch durch, bemalte sie die Berg/Küstenlandschaft mit traumhaften Farben.
Geschwungen
Sehr spät, nach über 100 Kilometern, erreichte ich Xanthi. Hier lebte noch eine türkische Minderheit. Vom großen Bevölkerungsaustausch vor hundert Jahren war dieses Städtchen ausgenommen worden.
Regenbogen bestrahlt
In der Nacht (unter Regen) in der schönen Altstadt spaziert. Ausgestattet mit schönen osmanischen Herrenhäusern.
Unterkunft: Hotel Xanthippion im Zentrum. Modern. Deutsch geführt. 58 Euro (mit Frühstück). Fahrrad im Keller abgestellt.
Der City-Bike-Laden hatte die neu Felge aus Patras kommen lassen und alles wieder sauber montiert. Das Fahrrad lief wie geschmiert, auch wenn es erstmal – Fotomotiv! – vor der Kulisse “Mittelmeer mit verschneitem Olymp” stillstand.
Ab jetzt durchhalten, bitte!
Die Strecke nach Chalkidiki anstrengend, aber nicht zu schwer. Und wichtiger: Nach einem Regentag hatte die Sonne sich wieder die Vorherrschaft erkämpft. Sie tauchte die Mini-Lagunen, die dem Meerufer vorgelagert waren, in ein schönes Kodachrome-Braun.
Spiegelwolken
Twins
Die Strände leer und unaufgeräumt.
Noch seetüchtig?
So wie die Ortschaften, die gespenstisch leer waren, vergilbt, vergessen, verblasst.
Ruckelpiste
Wie anders müssen sie in in einem Monat wirken, wenn (spätestens) mit dem orthodoxen Ostern die Saison beginnt.
Schließlich Nea Moudania erreicht. Kleinstädtchen. Einer Ministeilküste (à la Rügen) vorgelagert.
Caspar David war nicht hier
Leider kam ich einen Tick zu spät. Die Sonne hatte schnell keine Energie mehr und strahlte die porösen Felsen nicht mehr farbkräftig an. Ich hatte keine Chance, eine Foto-geeignete (=fotogene) Stelle zu finden.
Das Städtchen mit einer imposanten Kirche.
Gedrängt
Ansonsten: Gähnende Leere. Ich hatte Schwierigkeiten ein offenes Restaurant zu finden. In einer Taverne sah ich Menschen, viele. Ich trat ein, der junge schon reichlich betrunkene Wirt kam auf mich zu, ich bat um einen Tisch – und bedeutete mir, dass der Laden schon seit 1 Stunde geschlossen sei. Er feierte offensichtlich mit seinen Gästen, die geblieben waren, ein kräftiges Besäufnis. Er lud mich kurzerhand auf einen Wein ein. Umarmte mich herzhaft. Er wollte wissen, was mich hierher verschlagen hätte. Ich erzählte ihm (auf Englisch) von meiner Europaumrundung. Der Wirt war völlig begeistert, rief (beinahe) jeden Gast zu sich, damit er mir die Hand schüttelte. Für einige Minuten war ich der Mittelpunkt der Gesellschaft, jeder wollte irgendetwas von mir wissen. (Und ich hatte Hunger!) Bis schließlich ein Deutsch sprechender Gast kam und laut erzählte, dass erst letztes Jahr ein anderer (deutscher) Radfahrer aus Kasachstan angereist und hier eingekehrt sei. Damit war die Luft aus meiner Geschichte raus, ein neuer Held gefunden, und die Gesellschaft wandte sich wieder ihrer eigentlichen Tätigkeit zu, sich weiter zu besaufen. Ich ergriff die Gelegenheit, mich zu verabschieden (unter vielem Herzdrücken und der Versicherung, bald wieder zu kommen) und suchte mir ein Esslokal.
An diesem Abend wurde ich noch oft “willkommen” geheißen. Der Bartender einer (fast völlig leeren) Kneipe weihte mich in sein Schicksal ein. Er war ausgebildeter Förster, fand aber in Griechenland keinen Job. Also arbeitete er als Barkeeper. Er wiederholte die Geschichte, die ich mittlerweile so oft auf meiner Reise gehört habe: Die griechische Regierung – gleich welche, auch die aktuelle – tue nichts, um die Infrastruktur zu verbessern, um Jobs für ausgebildete junge Menschen zu schaffen. Alle strömten in die Touristik-Branche, die aber nur ein paar Monate im Jahr boome. Ansonsten nichts.
Ich ging (spät) reichlich wortbetäubt in mein Hotel.
Unterkunft: Hotel Cavo D’Oro”. Am Hafen. Ein klein wenig heruntergekommen. Aber freundlicher Empfang. 35 Euro (ohne Frühstück). Fahrrad in Büroraum untergestellt.