Tag 292 (21.06.2019) / Finnland: Pori -> Pjelax
Strecke: 153 km (09:00 – 01:15 Uhr)
Jede Etappe hat ihren “Drama-Tag”. Dieses Mal kam er ziemlich früh. Es war Mittsommer, die Finnen feierten im ganzen Land die Sonnenwende und machten einfach alles zu: Geschäfte, Restaurants und Hotels. Auf meinem Internet-Portal, auf dem ich täglich meine Unterkunft buchte, wurde mir im Umkreis von über 200 Kilometern kein einziges freies Bett angezeigt. Ganz ernst nahm ich das nicht, dachte, irgendetwas würde sich unterwegs schon finden.
Gut gelaunt steuerte ich zunächst den Strand von Yyteri an, mit einer – für die Ostsee – überaus beeindruckenden Dünenkulisse.
Es war aber kaum etwas los. Schon gar keine Sonnenwendfeier. Dafür kam ein strammer Herr mit stolzem Bauch auf mich zu und redete wild gestikulierend und ohne Unterlass auf mich ein. Ihn störte auch nicht, dass ich signalisierte, kein Wort zu verstehen. Er forderte mich mit Hände, Gesten und verständlichen Worten auf, ihn zu fotografieren und erzählte mir eine finnische Geschichte, von der ich nie erfahren werde, ob sie interessant war. Irgendwann wurde es mir zu viel und ich verabschiedete mich freundlich. Und hörte beim Weggehen wie er seine Erzählung immer weiter ausspann.
Es blies ein kalter Wind.
Trotz Dauersonnenenschein war es eher kalt und sehr diesig. Der lang gezogene Strand ziemlich leer.
Auch in den Dünen hielt sich kaum jemand auf.
Ich sattelte mein Fahrrad, fuhr – jetzt schon Mittag – weiter Richtung Norden.
Die Straße brückte sich zu Inseln, die der Küste vorgelagert waren. Manchmal wirkte die Ostsee wie eine Gruppe miteinander verbundener Teiche.
Ich hatte schon fast 100 Kilometer in der Beinen (es war später Nachmittag) und immer noch nirgends eine offene Unterkunft entdeckt.
Unterwegs: ein alter hölzerner Glockenturm …

Wärmende Farbe
… mit einer beindruckenden Almosenfigur neben der Tür. Sie zeigte mir den Weg zum Heimatmuseum von Siippy.
Mit Fischerhütte, Bauernhof, Windmühle …
und alter Gaststätte, die (natürlich) zu hatte.
Am kleinen (fast schon mondänen) Dorfhafen traf ich ein frustriertes junges finnisches Paar, das hierher geradelt war, weil es glaubte, dass es an diesem Ort eine große Sonnenwend-Party geben sollte. Jetzt war es ziemlich enttäuscht.
Die beiden suchten auf dem Handy nach Informationen, fanden aber keine Erklärung. Sie hatten aber immerhin Proviant, Schlafsack und Isomatte dabei und brauchten sich um eine Unterkunft (die es nicht gab), keine Sorgen zu machen.
Entlang der Küste in jeder noch so kleinen Bucht ein schönes Ferienhaus mit akkurat gepflegtem finnischen Rasen und Holzstühlen am Ufer, auf denen es sich bald die Hobbyangler bequem machen würden (die finnische Sommer-Ferien-Saison beginnt.
Ich hatte beschlossen, das Städtchen Kristinestad anzusteuern, in der Hoffnung, dort – nach gut 135 Kilometern Strampeln – eine Bleibe zu finden. Immerhin fand ich unterwegs eine offene Tankstelle, in der ich mich mit Wasser und etwas Essbarem eindecken konnte. Ein Herr (Rentner?) mit Cowboy-Hut und Cowboystiefeln näherte sich mir interessiert. Er sprach recht gut Deutsch und erklärte mir, dass er lange in Australien gelebt und beruflich die ganze Welt bereist habe. Zeitweise auch in Deutschland gearbeitet habe. Ich fragte ihn ein wenig aus über die Sommersonnenwende und er erzählte mir, dass er am Morgen in Siippy gewesen sei und dort ein “riesiger” Event stattgefunden habe. Mit Feuer, Tanz, traditionellen Liedern. Sogar eine Gruppe Asylsuchender sei von den Organisatoren eingeladen worden. Ich mussten an das frustrierte Pärchen denken, dass sich also ganz offensichtlich in der Tageszeit getäuscht hatte.
Die letzten 10 Kilometer nach Kristinestad taten mir weh. Es war hügelig, ich war müde und als ich über eine langgezogene Brücke in das Städtchen einfuhr, war es bereits 9 Uhr abends. 3 Hotels gab es in der schönen Altstadt. Alle 3 hatten Schilder an den Toren: Rund um Mittsommer geschlossen. Ich klapperte mit Hilfe meines Handy-Navis Restaurants ab – ich hatte Hunger und Durst – alle geschlossen. Die Straßen wie leergefegt.
Der finnische Sommergott hatte aber Erbarmen mit mir und führte mich zu einem Pub, das tatsächlich auf hatte und aus dem laute Musik dröhnte.
Ich ließ mich in einen Sessel fallen und überlegte, was zu tun. Hier die Nacht verbringen (das Türschild zeigte immerhin an, dass bis 4 Uhr morgens offen sein würde) und dann am Morgen an irgendeinem Strand schlafen?
Ich saß kaum richtig, schon gesellte sich ein sympathischer Koloss zu mir. Er kippte seine zahlreichen Biere schneller als ich eines schlucken konnte, erkannte sofort, dass ich ein Deutscher war und wollte in meiner Sprache mit mir reden. Er hatte viele Jahre auf der Kölner Messe gearbeitet, war jetzt pensioniert und vermisste ganz offensichtlich seine zweite Heimat. Immer wieder suchte er nach (deutschen) Worten, wurde mit jedem weiteren Bier sentimentaler, öffnete mir sein Herz. Er erklärte mir Finnland, das eingeklemmt zwischen Schweden (“arrogant”) und Russen (“grobschlächtig”) seinen unabhängigen Weg suche.
Er hatte Tränen in den Augen und irgendwann bemerkte ich, dass sie sich zu einem Rinnsal verdichteten, das stetig in sein Bier tropfte und es versalzte. Dann stand er urplötzlich auf (beeindruckende Größe!) umarmte mich warmherzig und machte sich auf den Weg nach Hause.
Kaum war der Platz neben mir leer, war er schon wieder besetzt. Eine ebenfalls beeindruckende Gestalt in Jägerklamotten hatte sich zu mir gesellt.
(Sollte mich irgendein göttliches Wesen ein zweites Mal in dieses Leben lassen, so sollte es mir dann unbedingt die Gabe verleihen, mir Namen merken zu können. In diesem ersten Leben gelingt es mir einfach nicht.)
Auch er sprach einige Brocken Deutsch. Er hatte vor vielen Jahren in Travemünde gearbeitet. Jetzt war er in Rente, war seit 5 Jahren clean – hatte früher “einfach zu viel getrunken”. Schluss damit.
Und er war gerührt, wieder mit jemandem Deutsch sprechen zu können. Er fragte mich aus, gab mir Tipps für die Weiterfahrt und stand gegen 23 Uhr auf. Er war melancholisch, umarmte mich und verabschiedete sich in die (taghelle) Nacht.
Die Stimmung in der Kneipe mittlerweile aufgeheizt. Eine Dorfband befeuerte das Publikum, von dem die eine Hälfte schon im Vollrausch war.
Die andere würde sicher bald folgen.
Der bullige Thekenwirt packte im Minutentakt gehunfähige Gefährten am Kragen und beförderte sie auf die Straße.
Auch das über ihrem (letzten) Bier eingeschlafene Mädchen musste den Pub verlassen.
Ich ging ebenfalls. Draußen zeigte eine Uhr an, dass gleich ein neuer Tag beginnen würde. Die Sonne war gerade untergegangen. Die Dämmerung hatte eingesetzt.
Eine Dämmerung, die aber in keine Nacht leitete, die nur zwei helle Tage miteinander verband. Ich beschloss, noch eine Weilte weiter zu radeln. Aber das ist ja schon die Geschichte vom nächsten Tag.