Vorletzter Tag. Ich hatte beschlossen, morgen in Trondheim die Tour zu beenden. Ich war kaputt. Ich kämpfte gegen eine ganze Rebellenarmee in mir:
Die rechte Wade verweigerte immer dreister den Dienst
Eine Hirnhälfte verhielt sich zunehmend subversiv und flüsterte mir ein, Unsinn zu machen, statt faul mit Freunden in der Sonne zu liegen, zu plaudern, zu lesen und dazu einen gut gekühlten Riesling zu trinken
Sogar mein einst treuer Gefährte Fahrrad bockte wieder und wollte nicht mehr durch Staub, Schlamm oder Kiesel
Ich hatte alle Mühe, den Aufstand niederzuschlagen, setzte grobe Mittel ein, kam aber dennoch zusehends in öffentlichen Rechtfertigungszwang.
Schon seit Tagen nahm ich kaum mehr noch Menschen, Landschaften, Situationen, Fotomotive wahr. Ich war nur noch mit mir selbst beschäftigt. Das Weiterkommen ein einziger Kampf mit mir (nicht mit den Bergen, der Straße oder dem Gegenwind).
Ich wünschte manchmal, ich könnte mir ein Hexentaxi nehmen und mich auf einem Besen zum Etappenziel kutschieren lassen.
Oder dass ich mich in einen Baumriesen verwandelte: fest verwurzelt, nie unstet, nie wandernd. Einfach da. Nie weg. Die Sonne kreist um jeden einzelnen Baum, nicht nur um die Erde. So muss man denken! Ich – Baum – Zentrum!
Aber es nutzte nichts. Noch war ich nicht vegan wiedergeboren. Ich musste in diesem Leben weiterkommen. Aber nur noch bis morgen. Ich kam früh in Steinkjer an. Sammelte Kräfte für den letzten Hexenritt nach Trondheim. 135 Kilometer. Morgen.
Strecke: 53 km (hin und zurück) (09:30 – 15:30 Uhr)
Yeah! Ich hab’s geschafft! Ich hab’s Nordkap erreicht.
Wobei: Ich hatte erhebliche Zweifel gehabt, ob mein Fahrrad das noch schaffen würde. In Stuttgart hatte ich es Tage vor der Tour noch einmal überholen lassen, war aber dort bereits gewarnt worden, dass Kette, Schaltung und diverses andere Zeug möglicherweise nicht mehr den Strapazen standhalten würden.
Und es sieht in der Tat nicht gut aus. Der Wehwehchen-Katalog meines Rennpferdes ist beachtlich: Bremsen ausgeleiert (und Öl verloren), Kette springt wild auf den Blättern herum, 1. Gang geht nicht mehr (obwohl ich an der Schaltung rumgeschraubt habe) und Vorderrad eiert und schleift am rechten Bremsbelag. Weit und breit keine Fahrradwerkstatt in Sicht.
Also hatte ich überhaupt keine andere Optionen als aufgeben (kurz vor dem Ziel) oder irgendwie durch.
Ich wählte die Variante zwei. Ließ sämtliches Gepäck (sogar das Werkzeug und sogar meine schwere Kamera) im Zimmer und begann – so “erleichtert”, aber doch bang – das Unternehmen.
Champion
Gleich hinter dem Campingplatz ging es auf 3 Kilometern heftig steil nach oben. 9 Prozent. Ich hatte mir vorgenommen, zur Not zu schieben, aber: Ohne das ganze Gepäck hatte ich überschüssige Kraft, sogar im 2. Gang den Anstieg auf 350 Meter zu meistern.
Keine Kleinigkeit
Schon zu Beginn der Tour – im Tal, über dem Campingplatz – lagen dunkle Wolken auf der Welt.
In der Tiefe liegt die Kraft
Sie regneten sich Gottseidank nicht ab. Wasser schoss nur aus den Felsen.
Immer noch lag Schnee am Wegrand.
Die Wolken ruhten sich auf der Straße aus. Es wurde kalt.
Die Sicht zunehmend schlechter. Als ich nach zweieinhalb Stunden Schufterei das Nordkap erreichte, konnte ich kaum die Hand vor meinen Augen sehen.
Auf Sicht fahren
Ich zog meine nassen Sachen aus, hing sie zum Abtropfen über mein Fahrrad.
Real champion
Lief vor zum Wahrzeichens des Nordkaps, schaute kurz in die Tiefe, in der nichts außer Wolken zu sehen waren …
Ausgeguckt
… und setzte mich ins Café des riesigen Touristenzentrums, kaufte mir ein Glas Sauvignon Blanc und eine belgische Waffel und dankte meinem Fahrrad, das es all diesen Unsinn mit mir gemeinsam geschafft hat.
Höllenlärm, dass einem fast die Ohren explodierten. Kalt, kalt kalt. Dazu völlig durchnässt von der Anstrengung. Ich hätte mir diese Tagestour nicht so schwer vorgestellt, zumal sie ja eigentlich eher kurz angelegt war. 66 Kilometer. Und der Tag hatte ohne Regen begonnen.
Nach einem Frühstück mit russischen Blinis und Rührei war ich ziemlich spät aufgebrochen.
Mein Gastort der letzten Nacht schien noch (obwohl bereits 10 Uhr) im Tiefschlaf.
Kalt und schön 1
Je weiter ich mich entfernte, um so schöner wurde Repvag.
Kalt und schön 2
Die Straße zunächst angenehm flach, windlos. Ich flog mehr als dass ich strampelte – oder beinahe.
Northword bound
Bei den ersten Steigungen wurde mir endgültig klar, dass etwas mit meiner Gangschaltung nicht stimmte. Der kleinste Gang tat überhaupt nicht mehr. Fatal fürs Berge fahren.
Nordmarkierungen
Und die Berge kamen nun.
Und vor allem die Tunnel. Ich hatte sie völlig unterschätzt. Der Nordkapptunnelen war 6870 Meter lang. Die Einfahrt geschätzt auf 100 Meter Meereshöhe. Ich schoss zunächst in die Tiefe, bis 212 Meter unter die Wasseroberfläche. But what comes down musst go up. Ab der Mitte des Tunnels musste ich in einer 10%igen Steigung wieder 300 Höhenmeter rauf. Schwer beladen. Und das ohne 1. Gang. Ich war nahe am Verzweifeln. Autos, die von vorn oder hinten kamen, kündigten sich mit einem Wahnsinnslärm an, den der dunkle Tunnel, der kahl und ohne jede Verkleidung war, wie ein Trichter ins Unermessliche verstärkte. Es tropfte von den Wänden und jeder Tropfen, der mich traf, rutschte widerstandslos durch meine eh schon nassgeschwitzte Kleidung. Ich hatte bald das Gefühl, mehr zu schwimmen als Fahrrad zu fahren.
Kaum raus aus dem Tunnel, kam der nächste. Nicht mehr so tief, aber seltsamerweise mit Steigungen (wieso muss man im Tunnel Hügel hinauf und wieder hinabfahren?).
Nass und schön
Die Landschaft immer wilder, nordischer.
Farblose Farben 1
Die Dörfer wie hingemalt. Inzwischen regnete es stark.
Farblose Farben 2
Ein Frontal-Wind peitschte mir ins Gesicht. Ich war halb blind. Hatte Linsen an – und doch schlierte die Sicht. Ich bekam nichts mehr scharf.
Als ich in Honningsvag einfuhr, einer sicher schönen Hafenstadt (endlich Städtchen!), hatte ich keinen Blick mehr für Bilder und Fotos.
Ich suchte mir eine Bar, tauschte auf der Toilette meine Kleidung, bestellte mir (jetzt wieder trocken) ein Bier. Sortierte mich kurz: Was war wichtig?
Fahrradwerkstatt! Gab es keine.
Wein! Der staatliche Alkoholmonopolist schloss bereits um 17 Uhr – also gleich.
Also Bier geleert, raus aus der Bar, rein in die Weinhandlung und einen ordentlichen Roten gekauft. (Die Weinpreise sind völlig in Ordnung. Happig ist nur der Konsum von Alkohol in Kneipen. Eine Halbe (Bier): ab 9 Euro. Ein Glas Wein 0,16l ab 10 Euro.)
So gut ausgerüstet für die Nacht, fuhr ich die knapp 8 Kilometer weiter bis zum Nordkapp-Camping. Ich hatte für 2 Nächte ein Zimmer gebucht.
Reisewetterbericht: Eine Regenfront ist im Anmarsch. Letzter schöner=sonniger (schön kann er ja auch sonst sein) Tag soll heute sein. Dann mindestens 5 Tage Grauzeit mit Kälte, Wind und ziemlich was von oben.
Also was tun? Nichts – beschloss ich. Nichts organisieren, kein Bett vorbestellen. Losfahren! Und wenn nötig: durch die Nacht (die es grad nicht gibt). Ich wollte Licht genießen.
Es wurde eine 24-stündige Reise durch den Norden Finnlands. 235 Kilometer am Stück bis zur völligen Entkräftung.
Der Anfang: easy. Ebenerdig, eigener Radweg, auf dem ich der alleinige Herr war. Niemand überholte mich, niemand ließ sich überholen. Ich war allein. Diese Route – hoch zum Nordkap – war offensichtlich nicht die Biker-Autobahn.
Ich bewegte mich nun im Innern Finnlands. Seenplatte. Unüberschaubar die Zahl der Gewässer. In vielen machten sich Angler die Füße nass. (Sicher nicht! Sie waren bestens ausgerüstet – ALLE!- mit Gummistiefeln, Spezialkleidung, modernstem Sportgerät.)
Ausdauersport
Ob Mann, ob Frau – sie hatten ihre Ruhe – und ihren stillen Spaß (Sind das die Faktoren für Glück? Finnisches Glück?).
Ein See, ein Teich, ein Tümpel: Keiner war unbehaust.
Weites Seeland
Ich fotografierte mich ein wenig durch diese Unübersichtlichkeit, bis ein Einheimischer vorbeikam, mich auf Finnisch aufforderte, ihm zu helfen, sein Boot zu entwässern (einfach umstülpen und aufgefangenes Regenwasser abfließen lassen), sich bedankte (ich versteh kein Finnisch, aber die Gesten waren sehr freundlich eindeutig) und sich wieder davonmachte.
Stabile Freundlichkeit
Der Mittag war schon vorbei, ich verließ immer wieder die Hauptstraße (E75), schaute, ob es etwas Interessantes jenseits gab.
Immer eine Straße da
Aber Finnlands Provinz glich sich – egal, wo ich fuhr. Schöne (Fertig-) Holzhäuser mit akkurat geschnittenem englischen Rasen (wieso lieben Finnen eigentlich Wildnis?).
So sauber, man könnte vom Rasen essen
Briefkästen nicht an der Hauswand, sondern en bloc am Straßenbeginn.
Auf der Stange
Und Winz-Dörfer, in denen ich manchmal zweifelte, ob sie überhaupt dauerhaft bewohnt sind.
Aller Platz für alle Individualisten
Ab und zu merkwürdiges Schamanenzeugs.
Enthäutetes Tipi
Und immer, immer, immer: die eigene Hütte am Teichufer.
Von Angesicht zu Angesicht
Und immer, immer, immer mit Sauna (hier rechts im Bild).
Ausgeklügelt
Ist das finnische Mittel für Glück einfach nur die Entschleunigung?
Jeder See wirkt wie ein abgesteckter Claim
Mein fotografisches Trödeln brachte mich langsam in Zeitschwiergkeiten.
Aber ein Motiv reihte sich an das nächste.
Als lebte hier Chingachgook.
Paradies für freie Fantasie
Als kämpfte er immer noch gegen die weißen Eindringlinge.
Wie gerne hätte ich jetzt James Fenimore Cooper zur Hand
Und als seien die Mohikaner gar nicht brutal gekillt worden, sondern rechtzeitig nach Finnland ausgewandert.
Ich hab alle Bände von ihm Zuhause
Die Tour wurde nun anstrengender, zeitweise führte die Straße auf 350 Meter hoch. Schon lange war ich durchgeschwitzt. Ich sehnte mich nach einem Bier.
Es war ziemlich spät (21 Uhr) – als ich schließlich die “Gold-Village” erreichte.
Jetzt auch noch "Wilder Westen" hier
Früher eine Banditen-Goldgräberstadt, heute eine stille Touristen-Illusion…
Perfekt inszeniert
… aber mit einem fantastischen Restaurant.
Ich stärkte mich nach 125 Kilometern querfeldein durchs Land mit einer Rentiersuppe (stilecht serviert auf einer Goldwash-Pan) für die Nacht (die es ja nicht gab) und für die nächsten Hundert Kilometer die noch vor mir lagen.
Immer wieder Bauernhöfe und größere Siedlungen. Alle entlang eines Flusses, der oft gestaut wird.
An manchen Stellen seen-haft schön.
Strahlendfrisches Rot
Immer wieder Wasserkraftwerke. Aber bei diesem erschloss sich mir nicht, was diese Rutsche rauf oder runter sollte.
Abgewetztes Rot
Der Wind blies heftig aus Nordwest. Also mir frontal ins Gesicht. Er erschöpfte mich.
Dabei sah der aufgestaute Fluss so still aus.
Algenblau (gibt's das?)
Ich brauchte lange, um in die Hauptstadt Lapplands zu gelangen.
Blütenzart (wie leicht feuchte Schneeflocken)
Rovaniemi : eine moderne Kleinstadt, 6 Kilometer vor dem Polarkreis. Von hier aus starten die Abenteurer. Abenteuer in dieser Provinz-Stadt gibt es kaum.
Okay. Ich hatte mittags geschlafen (3 Stunden) und spät nachts auch (6 – 7 Stunden). Ich fühlte mich nach der (vor)letzten durchzechten und durchradelten Nacht wieder einigermaßen fit. Die Sinusitits (ging einfach nicht weg!) störte, aber behinderte mich nicht mehr. Ich fuhr drauf los. Ich wollte endlich in den Norden. Am besten sofort an den Polarkreis. Aber da lagen nach einige Hundert Kilometer vor mir.
Nur: “gemach” ging heute überhaupt nicht.
Ich kam schnell ins Schwitzen. Keine Anstiege, nichts, und doch: Ich verbrauchte T-Shirt nach T-Shirt. Allesamt klatschnass. Und erst die Funktionsjacken. Konnten gar nicht so viel Wasser aufnehmen und wieder nach außen transportieren.
Es wehte (trotz Sonnenschein) eine kalter, unangenehmer Frontal-Wind.
Gegen 2 Uhr machte ich an der aufgewühlten Ostsee Rast. Breitete meine Klamotten auf dem Rasen eines Picknickplatzes aus. Wind & Sonne sind die besten Trockner.
Ich - Fahrendes (Einmann)Volk
Schon seit Tagen gab es unterwegs praktisch nichts zu kaufen. Mittsommer-Feiertage. Natürlich hatten auch die Alko-Läden (staatliches Monopol!) zu. Ich hatte es nicht rechtzeitig bemerkt und war in die finnische Alkohol-Falle getappt. In einem Supermarkt (bei einer Tanke) hatte ich mir schließlich eine Flasche spanischen Rotwein besorgt. Alkoholreduziert. Statt 11 Prozent nur mal 5,5 Prozent. Richtigen Wein dürfen die Tanken nicht verkaufen (staatliches Monopol – siehe oben).
Ich tat so, als schmeckte er mir.
Ich - sesshaftes (Einmann)Volk
In Wahrheit süffelte ich maximal einen leicht alkoholischen Traubensaft. Aus Deutschland hatte ich mir extra ein spezielles Wein-Plastikglas mitgebracht (unkaputtbar) und auf dieser Tour schon vielfach ausprobiert. Es taugte! Fast kein Unterschied zu Glas. Nur diesmal machte es den (alkoholreduzierten) “Sangre de Toro” auch nicht lebendiger.
Tischlein deck dich!
Mein Mittagessen bestand aus 1 Glas Rotwein, 1 Banane, 1 Pflaume.
Irgendwann durch Jakobstad geradelt. Beeindruckender Wasserturm (war das einer?).
Druckaufbau
Und dann wieder ein Lupinen-Radweg. Rad Rad Rad nach Norden.
Riechende Farben
Die Ostsee gewährte mittlerweile großzügig Einblicke.
Wie tief reicht dieses Blau?
Auf den letzten zwei drei Stunden hüpfte ich (mit Hilfe von Brücken) von Schäre zu Schäre und landete schließlich im vollkommen feiertagstoten Kokkola. Erneut kein Restaurant, keine Bar offen. Nur zwei drei Kebab-Pizza-Service-Läden. In einem versorgte ich mich mit einer Margherita zum Mitnehmen und entsorgte das wertvolle Lebensmittel gleich danach in einem städtischen Mülleimer – wegen Ungenießbarkeit.
Jede Etappe hat ihren “Drama-Tag”. Dieses Mal kam er ziemlich früh. Es war Mittsommer, die Finnen feierten im ganzen Land die Sonnenwende und machten einfach alles zu: Geschäfte, Restaurants und Hotels. Auf meinem Internet-Portal, auf dem ich täglich meine Unterkunft buchte, wurde mir im Umkreis von über 200 Kilometern kein einziges freies Bett angezeigt. Ganz ernst nahm ich das nicht, dachte, irgendetwas würde sich unterwegs schon finden.
Gut gelaunt steuerte ich zunächst den Strand von Yyteri an, mit einer – für die Ostsee – überaus beeindruckenden Dünenkulisse.
Es war aber kaum etwas los. Schon gar keine Sonnenwendfeier. Dafür kam ein strammer Herr mit stolzem Bauch auf mich zu und redete wild gestikulierend und ohne Unterlass auf mich ein. Ihn störte auch nicht, dass ich signalisierte, kein Wort zu verstehen. Er forderte mich mit Hände, Gesten und verständlichen Worten auf, ihn zu fotografieren und erzählte mir eine finnische Geschichte, von der ich nie erfahren werde, ob sie interessant war. Irgendwann wurde es mir zu viel und ich verabschiedete mich freundlich. Und hörte beim Weggehen wie er seine Erzählung immer weiter ausspann.
Es blies ein kalter Wind.
Kann Gras Gänsehaut haben?
Trotz Dauersonnenenschein war es eher kalt und sehr diesig. Der lang gezogene Strand ziemlich leer.
Sogar der Sand fröstelte
Auch in den Dünen hielt sich kaum jemand auf.
Sand in the wind
Ich sattelte mein Fahrrad, fuhr – jetzt schon Mittag – weiter Richtung Norden.
Dynamo
Die Straße brückte sich zu Inseln, die der Küste vorgelagert waren. Manchmal wirkte die Ostsee wie eine Gruppe miteinander verbundener Teiche.
Meiner Mutter hätt's gefallen
Ich hatte schon fast 100 Kilometer in der Beinen (es war später Nachmittag) und immer noch nirgends eine offene Unterkunft entdeckt.
Unterwegs: ein alter hölzerner Glockenturm …
Wärmende Farbe
… mit einer beindruckenden Almosenfigur neben der Tür. Sie zeigte mir den Weg zum Heimatmuseum von Siippy.
Mit Fischerhütte, Bauernhof, Windmühle …
Signalisiert sofort: Vergangenheit
und alter Gaststätte, die (natürlich) zu hatte.
Am kleinen (fast schon mondänen) Dorfhafen traf ich ein frustriertes junges finnisches Paar, das hierher geradelt war, weil es glaubte, dass es an diesem Ort eine große Sonnenwend-Party geben sollte. Jetzt war es ziemlich enttäuscht.
Die beiden suchten auf dem Handy nach Informationen, fanden aber keine Erklärung. Sie hatten aber immerhin Proviant, Schlafsack und Isomatte dabei und brauchten sich um eine Unterkunft (die es nicht gab), keine Sorgen zu machen.
Entlang der Küste in jeder noch so kleinen Bucht ein schönes Ferienhaus mit akkurat gepflegtem finnischen Rasen und Holzstühlen am Ufer, auf denen es sich bald die Hobbyangler bequem machen würden (die finnische Sommer-Ferien-Saison beginnt.
Ich hatte beschlossen, das Städtchen Kristinestad anzusteuern, in der Hoffnung, dort – nach gut 135 Kilometern Strampeln – eine Bleibe zu finden. Immerhin fand ich unterwegs eine offene Tankstelle, in der ich mich mit Wasser und etwas Essbarem eindecken konnte. Ein Herr (Rentner?) mit Cowboy-Hut und Cowboystiefeln näherte sich mir interessiert. Er sprach recht gut Deutsch und erklärte mir, dass er lange in Australien gelebt und beruflich die ganze Welt bereist habe. Zeitweise auch in Deutschland gearbeitet habe. Ich fragte ihn ein wenig aus über die Sommersonnenwende und er erzählte mir, dass er am Morgen in Siippy gewesen sei und dort ein “riesiger” Event stattgefunden habe. Mit Feuer, Tanz, traditionellen Liedern. Sogar eine Gruppe Asylsuchender sei von den Organisatoren eingeladen worden. Ich mussten an das frustrierte Pärchen denken, dass sich also ganz offensichtlich in der Tageszeit getäuscht hatte.
Die letzten 10 Kilometer nach Kristinestad taten mir weh. Es war hügelig, ich war müde und als ich über eine langgezogene Brücke in das Städtchen einfuhr, war es bereits 9 Uhr abends. 3 Hotels gab es in der schönen Altstadt. Alle 3 hatten Schilder an den Toren: Rund um Mittsommer geschlossen. Ich klapperte mit Hilfe meines Handy-Navis Restaurants ab – ich hatte Hunger und Durst – alle geschlossen. Die Straßen wie leergefegt.
Der finnische Sommergott hatte aber Erbarmen mit mir und führte mich zu einem Pub, das tatsächlich auf hatte und aus dem laute Musik dröhnte.
Ich ließ mich in einen Sessel fallen und überlegte, was zu tun. Hier die Nacht verbringen (das Türschild zeigte immerhin an, dass bis 4 Uhr morgens offen sein würde) und dann am Morgen an irgendeinem Strand schlafen?
Ich saß kaum richtig, schon gesellte sich ein sympathischer Koloss zu mir. Er kippte seine zahlreichen Biere schneller als ich eines schlucken konnte, erkannte sofort, dass ich ein Deutscher war und wollte in meiner Sprache mit mir reden. Er hatte viele Jahre auf der Kölner Messe gearbeitet, war jetzt pensioniert und vermisste ganz offensichtlich seine zweite Heimat. Immer wieder suchte er nach (deutschen) Worten, wurde mit jedem weiteren Bier sentimentaler, öffnete mir sein Herz. Er erklärte mir Finnland, das eingeklemmt zwischen Schweden (“arrogant”) und Russen (“grobschlächtig”) seinen unabhängigen Weg suche.
Geschichtenerzähler
Er hatte Tränen in den Augen und irgendwann bemerkte ich, dass sie sich zu einem Rinnsal verdichteten, das stetig in sein Bier tropfte und es versalzte. Dann stand er urplötzlich auf (beeindruckende Größe!) umarmte mich warmherzig und machte sich auf den Weg nach Hause.
Kaum war der Platz neben mir leer, war er schon wieder besetzt. Eine ebenfalls beeindruckende Gestalt in Jägerklamotten hatte sich zu mir gesellt.
(Sollte mich irgendein göttliches Wesen ein zweites Mal in dieses Leben lassen, so sollte es mir dann unbedingt die Gabe verleihen, mir Namen merken zu können. In diesem ersten Leben gelingt es mir einfach nicht.)
Auch er sprach einige Brocken Deutsch. Er hatte vor vielen Jahren in Travemünde gearbeitet. Jetzt war er in Rente, war seit 5 Jahren clean – hatte früher “einfach zu viel getrunken”. Schluss damit.
Auch ein Geschichtenerzähler
Und er war gerührt, wieder mit jemandem Deutsch sprechen zu können. Er fragte mich aus, gab mir Tipps für die Weiterfahrt und stand gegen 23 Uhr auf. Er war melancholisch, umarmte mich und verabschiedete sich in die (taghelle) Nacht.
Die Stimmung in der Kneipe mittlerweile aufgeheizt. Eine Dorfband befeuerte das Publikum, von dem die eine Hälfte schon im Vollrausch war.
Die andere würde sicher bald folgen.
Der bullige Thekenwirt packte im Minutentakt gehunfähige Gefährten am Kragen und beförderte sie auf die Straße.
Auch das über ihrem (letzten) Bier eingeschlafene Mädchen musste den Pub verlassen.
Macht keine Geschichten mehr
Ich ging ebenfalls. Draußen zeigte eine Uhr an, dass gleich ein neuer Tag beginnen würde. Die Sonne war gerade untergegangen. Die Dämmerung hatte eingesetzt.
Tag/Nachtverschmelzung
Eine Dämmerung, die aber in keine Nacht leitete, die nur zwei helle Tage miteinander verband. Ich beschloss, noch eine Weilte weiter zu radeln. Aber das ist ja schon die Geschichte vom nächsten Tag.
Zuerst mit der Fähre rüber auf die größte dänische Insel Sjælland.
Shark-Boot
Fast eineinhalb Stunden dauerte die Fahrt und kostete mit Fahrrad 50 Euro. Dänemark ist beinahe völlig bargeldlos. Jeder zahlt noch den kleinsten Betrag mit einer Kredit- oder Prepaid-Karte. Der Kellner an Bord der Fähre war so überrascht, als er mein Frühstück buchen und ich nicht mit Karte zahlen wollte. Er musste in die Bordküche zurück, um sich Wechselgeld zu holen.
Wegen eines Unwetters legte die Fähre verspätet in Sjællands Odde an. 11 Uhr war es bereits – und über 110 Kilometer lagen noch vor mir. Nach den ersten fünf hatte ich bereits einen Platten. Der Reifenmantel mit einem tiefen Riß. Ich flickte ihn notdürftig, tauschte den Schlauch aus und stieg wieder auf.
Lahmgelegt
Ich kämpfte ab nun nicht mehr nur gegen den Frontalwind. Ich kämpfte mit mir selbst ums Ankommen. Es war Nacht, als ich schließlich in die Hauptstadt einfuhr. Kopenhagen wirkte klein, gar nicht wie eine Metropole. Ich war gespannt, wie die Stadt sich am Morgen präsenteren würde. Mein vorgebuchtes Hotel lag im Stadtteil Vesterbro. Ein ehemaliges Arbeiter- und Rotlichtviertel. Malocher und Nutten sah ich in der Nacht allerdings nicht. Dafür Szenebars, die sich straßenweise wie Bernsteine mit wilden Einschlüssen zu schillernden Glitzerketten aufreihten. Was blieb mir übrig: Ich belohnte mich mit französischem Roten. Und schon nach dem zweiten Glas leerte sich mein Portemonnaie bedenklich. Ich gab schließlich meine letzten dänischen Kronen für den letzten gefüllten Kelch vor dem Schlafengehen.
Wieder so ein Gegen-den-Wind-Radeln-Tag. Damit eigentlich wie geschaffen für frühe schlechte Laune. Hatte ich aber nicht. Ich fuhr gen Süden. Und das änderte vieles, eigentlich alles. Ich wunderte mich selbst darüber, wie dieser kleine Umstand, Licht wieder von vorne zu haben und nicht ständig im Nacken, die Stimmung beeinflusst. Ich war lebensfroh. Summte vor mich hin. Auch als die Sonne längst schon wieder hinter Wolkenbergen verschwunden war. Ich bin Südländler! Es fällt mir schwer zu verstehen, warum die Dänen als eines der glücklichsten Völker der Welt gelten (laut World Happines Index). Ich weiß nicht, wo Dänen sich aufhalten, in ihrem Land jedenfalls nicht. Ich traf in den Straßen keinen, ich saß oft allein in Restaurants und nach Bars zum Abhängen suchte ich meist vergeblich. In der Woche, die ich jetzt durchs Land reiste, habe ich kaum ein Wort gesprochen. Mit wem denn auch? Aber vielleicht gab es doch Dänen in Dänemark, und sie saßen alle hinter ihren schönen Legofassaden und freuten sich des Lebens? Hygge als eingemauertes Glück?
Mein Tagesglück währte nur kurz. Der Wind wurde zum Sturm und zerbeulte mir das Gesicht. Nach 40 Kilometern hatte ich Lust, vom Fahrrad abzusteigen, in Frederikshavn die große Fähre zu nehmen und nach Schweden überzusetzen.
Shark
Ich hatte Mühe, mich selbst von der Idee abzubringen, meinen Reiseweg abzukürzen. Ich wollte ja noch Kopenhagen sehen. Also hielt ich durch.
Kurz wurde ich mit ein wenig Sonne belohnt. Mit schmucken menschenleeren Dörfern.
Provinz 1
Provinz 2
Mit Butzenscheiben-Romantik.
Putzig
Dann wieder Tagesgrau und böiger Südwestwind. Ich mühte mich, mein Zwischenziel Aalborg zu erreichen. Entkräftet, mit brennenden Knien und heißer Stirn, kam ich in der Stadt am Limfjord an. Die Nacht war bereits in die Straßen gekrochen. Und ich erlebte eine Überraschung: Dänen! Überall Dänen. Junge Dänen. Welch herrliche Stadt. Die Straßen voll, eine Kneipe nach der andern. Grandiose Weinbars. In einer konnte ich sogar ein wenig plaudern. Die Bartenderin erzählte mir, wie sie gestern vom Sturm vom Rad geweht worden war. Zack war sie auf der Straße gelegen. Nur ein paar Kratzer am Knie. Glimpflich. Wir redeten viel über Wind und noch mehr über Wein.
Unterkunft: Hotel Phönix, Stadtmitte. Traditionshaus im alten Backsteingebäude. Innen sehr nostalgisch und liebevoll ausgestattet. Sehr zuvorkommendes Personal. Absolut eine Empfehlung. (90 Euro (mit Frühstück).)
Hätte ich mich auf meine Wetter-App verlassen, wäre ich im Bett liegen geblieben und hätte mich endlich mal von den Strapazen der letzten Tage erholt. Sturm und Regen waren angesagt.
Aber schon bei Aufbruch in Klitmøller war es zumindest trocken. Wenngleich das kleine Dörfchen – in der Surfercommunity “Cold Hawai” genannt – reichlich verschlafen wirkte. Ich fand kein offenes Café. Fuhr mit knurrendem Magen los.
Leuchttürmchen
Am Morgen blieb es grau. Der Fahrradweg führte durch bezaubernde Dünenlandschaften. Die Farbe Grüngrau dominierte den Morgen.
Wallend
In einer Tanke fand ich schließlich meinen Morgenkaffe.
Je weiter ich mich nach Norden vorarbeitete, um so schöner die Streckenführung. An kleinen Seen vorbei, auf Pfaden, die durch riesige Schilffelder führten. Vorsichtig schimmerte Sonnenlicht aus den Wolken.
Wogend
Ich machte einen Abstecher zum Thorup-Strand und auf einmal lugte die Sonne zaghaft durch Wolkenritze. Nur der Wind peitschte, als wolle er die Fischerboote noch weiter aus dem Meer treiben.
Gestrandet
Endlich mal wieder Farbe vor Linse.
Im Kiesbett
Einheitsfarbe
Beflaggt
Weiter ging’s. Wieder durch Dünen und Dünenwiesen. Der Weg teilweise mit Golfrasen begrünt. Strange.
Von der Schnur gezogen
Heute fast keinen Asphalt befahren – fast ausschließlich herrliche Wander- und Fahrradwege durch einsame Küstenwälder. Flach war es selten. Eher was für Crossbiker.
Erneut steuerte ich einen Strand an und wurde fast weggeweht – so heftig der Sturm.
Die Sonne zeigte sich jetzt kraftvoll und malte die auf Sand gesetzten Schiffe bunt aus.
Schiffschwarm
Die Szenerie hatte einen Hauch von “mediterran”.
Einzeller
Nur nicht die Dörfer – sie wirkten leer, verlassen, aus der Saison gefallen.
Sanddorf
Ich picknickte kurz (1 Banane, 2 Scheiben Brot mit Käse, 1 Flasche Schweppes).
Farbenfroh
Abgelegt
Bedünt
Und fuhr wieder durchs Hinterland. Jedesmal, wenn der Weg durch einen Wald führte, freute ich mich. Dort windete es nicht so stark.
Durchgehend
Königliches Jagdgebiet. Was bedeutete das Schild? Schieß den König? oder Schießen für den König reserviert?
Angeln verboten
Es war schon Abend, als die Sonne sich endgültig verabschiedete, der Sturm beinahe orkanartig wurde und ich die Klippen von Norre-Lyngby erreichte. Das Dörfchen auf der Klippenkante verliert mit den Jahren immer mehr Häuser. Sie stürzen einfach ab.
Ausgeklippt
Vom Meer geholt. Hier bekam ich eine Ahnung, mit welcher Kraft die Nordsee die Küste bearbeitet.
Gischtende See
Gischtende See 2
Kurz vor der Dunkelheit in Lønstrup reingeradelt. Zufrieden und kaputt.
Unterkunft: Hotel Kirkedal. Zweckmäßig eingerichtet. Empfangen wurde ich – wie so häufig – mit einem Zettel an der Tür: Rezeption geschlossen. Schlüssel befindet sich dort. Bei Fragen bitte folgende Nummer anrufen. (80 Euro mit Frühstück.)